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Wahlen zum Deutschen Reichstag (1871-1890): Ein statistischer Überblick

Der Reichstag des Deutschen Reichs wurde auf Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrechts gewählt. Über den Großteil des Kaiserreichs hinweg saßen 397 Abgeordnete im Reichstag, die jeweils einen Wahlkreis vertraten. Im Jahr 1871 umfasste jeder Reichstagswahlbezirk etwa 100.000 Einwohner. Doch da die Regierung und die rechtsgerichteten Parteien eine Neueinteilung der Wahlkreisgrenzen ablehnten, die bedeutende Bevölkerungsverschiebungen widergespiegelt hätte, hatten manche Bezirke bald mehr Wähler im Vergleich zum reichsweiten Durchschnitt, andere wiederum weit weniger. Um in den Reichstag gewählt zu werden, benötigte ein Kandidat eine absolute Mehrheit. Da gewöhnlich mehr als zwei Kandidaten um einen bestimmten Wahlkreis kämpften, geschah es häufig, dass keiner eine absolute Mehrheit erlangte. Wenn dieser Fall eintrat, wurde eine oder zwei Wochen nach der Hauptwahl eine zweite oder so genannte Stichwahl zwischen den beiden Bewerbern mit den meisten Stimmen abgehalten. Über die Jahre nahm die Wahlbeteiligung beträchtlich zu, wie die folgende Tabelle zeigt. Einen frühen Spitzenwert weist das Jahr 1887 auf, als 77% der Wahlberechtigen zu den Wahlurnen zogen – eine bemerkenswerte Partizipationsrate im Vergleich zu vielen heutigen Demokratien. Hier lassen sich die Zuwächse und Verluste der Hauptparteien bei ihrem Bemühen ermessen, mit den Anforderungen der Wählermobilisierung im Zeitalter der Massenpolitik zurechtzukommen, obwohl diese Statistiken nur einen Ausgangspunkt liefern. Der wichtigste Trend ist das allmähliche Schwinden der Unterstützung für die beiden konservativen Parteien, die relativ stabile Unterstützung für die katholische Zentrumspartei und der Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei, die ab 1890 mehr Stimmen als jede andere Partei errang und nach den Wahlen im Januar 1912 die größte Einzelfraktion im Reichstag stellte.

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Wahlergebnisse im Überblick


 

1. Reichstag 1871 (7)

Wahlberechtigte: Millionen 7,656
Abgegebene Stimmen: Millionen 3,907
Wahlbeteiligung: 51,0 %
Wahlberechtigte in % der Bevölkerung (1): 19,4 %

 

 

Stimmenzahl Millionen

Stimmenanteil (%)

Mandatszahl

Mandatsanteil (%)

Konservative

0,549

14,1

57

14,9

Reichspartei (Freikonservative)

0,346

8,9

37

9,7

Nationalliberale

1,171

30,1

125

32,7

Liberale

0,281

7,2

30

7,9

Liberale Vereinigung (2)

Deutsche Fortschrittspartei (3)

0,342

8,8

46

12,0

Deutsche Volkspartei

0,019

0,5

1

0,3

Zentrum

0,724

18,6

63

16,5

Welfen

0,052

1,4

6

1,6

Sozialdemokraten

0,124

3,2

2

0,5

Polen

0,176

4,5

13

3,4

Dänen (4)

0,025

0,7

1

0,3

Elsaß-Lothringer (5)

Antisemiten, Wirtschaftliche Vgg. (6)

Sonstige

0,079

2,0

1

0,3

Insgesamt

3,888

 

382

 




 

2. Reichstag 1874

Wahlberechtigte: Millionen 8,523
Abgegebene Stimmen: Millionen 5,220
Wahlbeteiligung: 61,2%
Wahlberechtigte in % der Bevölkerung (1): 21,6%

 

 

Stimmenzahl Millionen

Stimmenanteil (%)

Mandatszahl

Mandatsanteil
(%)

Konservative

0,360

6,9

22

5,5

Reichspartei (Freikonservative)

0,376

7,2

33

8,3

Nationalliberale

1,543

29,7

155

39,0

Liberale

0,054

1,0

3

0,8

Liberale Vereinigung (2)

Deutsche Fortschrittspartei (3)

0,448

8,6

49

12,3

Deutsche Volkspartei

0,022

0,4

1

0,3

Zentrum

1,446

27,9

91

22,9

Welfen

0,073

1,4

4

1,0

Sozialdemokraten

0,352

6,8

9

2,3

Polen

0,198

3,8

14

3,5

Dänen (4)

0,034

0,7

1

0,3

Elsaß-Lothringer (5)

0,235

4,5

15

3,8

Antisemiten, Wirtschaftliche Vgg. (6)

Sonstige

0,051

1,0

Insgesamt

5,190

 

397

 




 

3. Reichstag 1877

Wahlberechtigte: Millionen 8,943
Abgegebene Stimmen: Millionen 5,423
Wahlbeteiligung: 60,6%
Wahlberechtigte in % der Bevölkerung (1): 20,9%

 

 

Stimmenzahl Millionen

Stimmenanteil (%)

Mandatszahl

Mandatsanteil (%)

Konservative

0,526

9,7

40

10,1

Reichspartei (Freikonservative)

0,427

7,9

38

9,6

Nationalliberale

1,470

27,2

128

32,2

Liberale

0,135

2,5

13

3,3

Liberale Vereinigung (2)

Deutsche Fortschrittspartei (3)

0,418

7,7

35

8,8

Deutsche Volkspartei

0,045

0,8

4

1,0

Zentrum

1,341

24,8

93

23,4

Welfen

0,085

1,6

4

1,0

Sozialdemokraten

0,493

9,1

12

3,0

Polen

0,216

4,0

14

3,5

Dänen (4)

0,023

0,4

1

0,3

Elsaß-Lothringer (5)

0,200

3,7

15

3,8

Antisemiten, Wirtschaftliche Vgg. (6)

Sonstige

0,022

0,4

Insgesamt

5,401

 

397

 




 

4. Reichstag 1878

Wahlberechtigte: Millionen 9,124
Abgegebene Stimmen: Millionen 5,781
Wahlbeteiligung: 63,4%
Wahlberechtigte in % der Bevölkerung (1): 21,4%

 

 

Stimmenzahl Millionen

Stimmenanteil (%)

Mandatszahl

Mandatsanteil (%)

Konservative

0,749

13,0

59

14,9

Reichspartei (Freikonservative)

0,786

13,6

57

14,4

Nationalliberale

1,331

23,1

99

24,9

Liberale

0,156

2,7

10

2,5

Liberale Vereinigung (2)

Deutsche Fortschrittspartei (3)

0,385

6,7

26

6,6

Deutsche Volkspartei

0,066

1,1

3

0,8

Zentrum

1,328

23,1

94

23,7

Welfen

0,100

1,7

10

2,5

Sozialdemokraten

0,437

7,6

9

2,3

Polen

0,210

3,6

14

3,5

Dänen (4)

0,018

0,3

1

0,3

Elsaß-Lothringer (5)

0,179

3,1

15

3,8

Antisemiten, Wirtschaftliche Vgg.(6)

Sonstige

0,015

0,3

Insgesamt

5,761

 

397

 




(1) Nach der jeweils letzten Volkszählung. Zu berücksichtigen ist, daß bei solchen Wahlen, die in großem Abstand zur vorhergehenden Volkszählung stattfanden (wie z.B. die Wahl von 1890, bei der nicht die Volkszählung von 1890, sondern die von 1885 zugrundegelegt wurde), der Prozentsatz der Wahlberechtigten an der Bevölkerung geringfügig höher erscheint, als er in Wirklichkeit ist. Der niedrige Prozentsatz von 1871 ist z.T. auf die mangelhaft geführten Wählerlisten zurückzuführen.

(2) Ab 1893 Freisinnige Vereinigung, ab 1910 aufgegangen in der Fortschrittlichen Volkspartei.

(3) Ab 1884 Deutsch-Freisinnige Partei, ab 1893 Freisinnige Volkspartei, ab 1910 aufgegangen in der Fortschrittlichen Volkspartei.

(4) Die in Schleswig-Holstein sowohl für die Partikularisten als auch für die Protestpartei abgegebenen Stimmen wurden hier den Dänen zugerechnet, sofern in der amtlichen Statistik keine weiteren Angaben gemacht wurden.

(5) Hier wurden – wie üblich – die in Elsaß-Lothringen bis 1878 für das Zentrum abgegebenen Stimmen den Elsaß-Lothringern zugerechnet, ebenso die in der amtlichen Statistik 1874–78 dem Zentrum zukommenden Abgeordneten, die als „nicht zur Fraktion“ gehörig bezeichnet wurden.

(6) Antisemiten traten bei den Reichstagswahlen von 1887–1903 als Splittergruppen unter den Parteinamen Christlich-Soziale Partei, Deutsche Reformpartei, Deutsch-Soziale Reformpartei und Deutsch-Soziale Partei auf. Ab 1907 erscheint in dieser Rubrik auch die Wirtschaftliche Vereinigung, in der die Antisemiten als dominierende Gruppe aufgegangen sind.

(7) Noch ohne Elsaß-Lothringen. Es handelt sich hier um die korrigierten Angaben aus Bd. 250 der Statistik des Deutschen Reichs, 1912, da in der Wahlstatistik von 1871/74 bei den Wahlkreisen Frankfurt 10 und Breslau 12 nicht die Ergebnisse der ersten ordentlichen Wahlen, sondern irrtümlich die der Nachwahlen eingesetzt worden sind.

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