GHDI logo


Benjamin Disraeli zur „Deutschen Revolution” (9. February 1871)

Benjamin Disraeli (1804-1881) war Großbritanniens erster und einziger jüdischer Premierminister. Nachdem er 1868 in einer Parlamentswahl durch William Gladstone (1809-1898) geschlagen wurde, musste er sich mit sechs weiteren Jahren auf den Oppositionsbänken abfinden. In dieser Rede vor dem Unterhaus macht Disraeli eine Bestandsaufnahme der deutschen Angelegenheiten weniger als einen Monat nach der Proklamation des Deutschen Reichs. Obwohl Großbritannien am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 unbeteiligt war, beschreibt Disraeli die Bedeutung dieser Ereignisse für die Stellung Großbritanniens und Deutschlands in Europa. Im Verlauf der Rede erwähnt er Lord Palmerston – Henry John Viscount Palmerston (1784-1865) –, der lange als britischer Außenminister und Premierminister gedient hatte. In beiden Ämtern hatte Palmerston Großbritanniens Festhalten am europäischen Machtgleichgewicht personifiziert, das Disraeli nunmehr als „völlig zerstört“ betrachtet.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Ich möchte die Aufmerksamkeit des Unterhauses auf den Charakter dieses Krieges zwischen Frankreich und Deutschland lenken. Es ist keiner der herkömmlichen Kriege, wie es der Krieg zwischen Preußen und Österreich [1866] oder der Italienische Krieg [1859] war, an dem Frankreich vor einigen Jahren beteiligt war; noch ist er dem Krimkrieg [1853–1856] vergleichbar.

Dieser Krieg bedeutet die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts. Ich sage nicht, daß er ein größeres oder ebenso großes soziales Ereignis ist. Seine sozialen Auswirkungen werden sich erst in der Zukunft zeigen. Nicht ein einziger Grundsatz unserer Außenpolitik, der noch vor sechs Monaten von allen Staatsmännern als Leitfaden anerkannt wurde, ist weiterhin gültig. Es gibt keine einzige diplomatische Tradition, die nicht hinweggefegt worden ist. Wir haben eine neue Welt, neue Einflüsse am Werk, neue und unbekannte Größen und Gefahren, mit denen wir fertig werden müssen und die zur Zeit, wie alles Neue, noch undurchschaubar sind. Wir haben früher in diesem Haus über das Gleichgewicht der Macht debattiert. Lord Palmerston, ein in hohem Maße praktischer Mann, hat das Staatsschiff und seine Politik daraufhin ausgerichtet, daß das Gleichgewicht Europas erhalten bleibe [ . . . ] Aber was ist jetzt wirklich geschehen? Das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört worden und das Land, das am meisten darunter leidet und das die Auswirkungen dieses großen Wandels am meisten spürt ist England. [69]



Quelle: Hansard, Parliamentary Debates, Ser. III, Bd. cciv, February-March 1871, Rede vom 9. Februar 1871, S. 81-82; englischer Originaltext abgedruckt in William Flavelle Moneypenny und George Earle Buckle, The Life of Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield, neue bearb. Ausg. in 2 Bänden, Bd. 2, 1860-1881. London: John Murray, 1929, S. 473-74.

Quelle der deutschen Übersetzung: Gerhard A. Ritter, Hg., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 181.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite