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Hofprediger Adolf Stöcker thematisiert den Antisemitismus in der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei (19. September 1879)

Adolf Stöcker (1835-1909) war Hofprediger und Anführer der 1878 gegründeten, antisemitischen Christlich-Sozialen Arbeiterpartei. Die Partei wurde ursprünglich gegründet, um die arbeitenden Klassen vom Sozialismus abzubringen. Als die vorliegende Rede gehalten wurde, entwickelte die Bewegung sich bereits in Richtung einer vorwiegend antisemitischen Partei. Daher strich man das Wort „Arbeiter“ aus dem Parteinamen. Bis 1896, als Stöcker zum Verlassen der Konservativen Partei gezwungen wurde, war er größtenteils verantwortlich für die Anziehungskraft der Partei gegenüber den Wählern des Kleinbürgertums in Berlin und anderen deutschen Großstädten. Einige Zeitgenossen sprachen von ihm als Deutschlands „zweitem Luther“. Andere verwiesen auf sein ungeheures (sogar „demagogisches“) Rednertalent und seine Fähigkeit, die Massen zu bewegen. In dem Textausschnitt unten stellt Stöcker seine erhebliche rhetorische Begabung unter Beweis. Er hält die Aufmerksamkeit seines Publikums aufrecht, indem er die „Forderungen“ seiner Partei an die Juden auflistet, von denen jede bewusst ironisch ist. Er ruft die Juden auf, „ein klein wenig bescheidener“ zu sein, „ein klein wenig toleranter“ und etwas mehr dem Prinzip der Gleichheit verpflichtet. Diese Rede spiegelt außerdem Stöckers fortgesetztes Bemühen wider, seinen Anspruch auf die Spitzenposition unter konkurrierenden antisemitischen Führern anzumelden, indem er die „Judenfrage“ und die „soziale Frage“ miteinander verband. Die zugrunde liegende Ursache der „Bedrohung“ der christlichen Gesellschaft durch das Judentum war nach seinem Dafürhalten Deutschlands rasche Industrialisierung, der Triumph des dem Mammon ergebenen Kapitalismus, der Aufstieg eines klassenbewussten Proletariats und die Entfremdung der Arbeiter von der Kirche. Kurz gesagt bestand seine Lösung der „Judenfrage“ darin, dass die deutsche Gesellschaft dem Liberalismus abschwor und sich von neuem dem christlichen Glauben widmete.

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Die Judenfrage ist schon lange eine brennende Frage; seit einigen Monaten steht sie bei uns in hellen Flammen. Sie zehrt nicht vom religiösen Fanatismus, auch nicht von politischer Leidenschaft. Orthodoxe und Freigeister, Conservative und Liberale reden und schreiben über dieselbe mit gleicher Heftigkeit; sie alle behandeln das Judenthum nicht als einen Zankapfel confessioneller Unduldsamkeit, sondern als einen Gegenstand socialer Besorgniß. Die sociale Frage ist die Judenfrage, – schreibt Glagau. Wählt keinen Juden! – ruft W. Marr in einer dritten Broschüre, nachdem er in der ersten vom „Sieg des Judenthums über das Germanenthum,“ in der zweiten von „dem jüdischen Kriegsschauplatz“ berichtet hatte. Finis Germaniae, zu Deutsch: Das Ende Deutschlands ist gekommen – schließt er in höchster Erregung seinen Aufruf an unser Volk. Nun, so nahe glauben wir das Sterben des deutschen Geistes noch nicht. Völker können wiedergeboren werden wie einzelne Menschen; auch Deutschland, auch Berlin wird wieder genesen und von dem fremden Geiste sich losmachen.

Aber Krankheitssymptome sind da; sociale Uebele stände liegen unserm Volkskörper in allen Gliedern, und social-Feindschaft ist nie ohne Grund. Christen wie Juden muß es eine ernstliche Sorge sein, daß aus der Gegnerschaft kein Haß werde. Denn schon zuckt es hier und da wie das Wetterleuchten eines fernen Gewitters. Aber sehr merkwürdig ist, daß die jüdischliberalen Blätter nicht den Muth haben, auf die Klagen und Anklagen ihrer Angreifer zu antworten. Sonst erfinden sie den Skandal, wenn es keinen giebt; an den Predigten in unseren Kirchen, wie an den Verhandlungen unserer kirchlichen Versammlungen wetzen sie ihre giftigen Federn; aber die Judenfrage suchen sie todt zu schweigen und vermeiden es durchaus, ihre Leser von jenen unangenehmen Stimmen irgend Etwas hören zu lassen. Sie hüllen sich in den Schein, als verachteten sie ihre Gegner, als hielten sie dieselben keiner Antwort werth. Es wäre richtiger, von den Feinden zu lernen, die eigenen Schäden zu erkennen und gemeinsam an der socialen Versöhnung zu arbeiten, die uns so nothwendig ist.

In dieser Absicht möchte ich die Judenfrage behandeln, in voller christlicher Liebe, aber auch in voller socialer Wahrheit.

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