GHDI logo


Fünftes Flugblatt der „Weißen Rose” (Januar 1943)

Als Instanz aktiven politischen Widerstands zum NS-Regime bildete die Münchener Studentengruppe „Weiße Rose“ eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der deutschen Jugendopposition. Die wohl bekanntesten Mitglieder waren die Geschwister Hans (1918-1943) und Sophie Scholl (1921-1943), deren anfängliche Begeisterung für das NS-Regime bald in Opposition umschlug. Erkenntnisse über die Verbrechen der Regierung, wie z.B. das Euthanasieprogramm und die Zustände an der Ostfront trugen zu ihrem Entschluss bei, sich dem Regime zu widersetzen. Den Kern der Gruppe bildeten Sophie, Hans und dessen Studienfreunde Alexander Schmorell (1917-1943), Christoph Probst (1919-1943) und Willi Graf (1918-1943) sowie später auch Professor Kurt Huber (1893-1943).

1942/43 verteilten die Mitglieder der „Weißen Rose“ sechs verschiedene Flugblätter, in denen sie die Leser an deren moralische Verpflichtungen erinnerten, zum Widerstand gegen die NS-Diktatur aufriefen und das Ende des Krieges forderten. Während die ersten vier Flugblätter nur an einen kleinen Kreis von hauptsächlich Münchener Akademikern verteilt wurden, fand das nachfolgende fünfte Blatt (s. unten) in tausendfacher Auflage seinen Weg in mehrere Städte Süddeutschlands. Verfasst von Hans Scholl, Schmorell und Probst und adressiert an alle Deutsche, mahnte es, dass Mitschuld an NS-Verbrechen nur durch aktiven Widerstand vermieden werden könne.

Bei der Verteilung des sechsten und letzten Flugblatts am 18. Februar 1943 wurde Sophie Scholl vom Hausmeister der Ludwig-Maximilians-Universität beobachtet. Die Gestapo verhaftete die Geschwister Scholl sowie Christoph Probst. Alle drei wurden am 22. Februar vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am gleichen Tag durch das Fallbeil hingerichtet. Schmorell wurde am 24. Februar 1943 verhaftet und am 19. April zum Tode verurteilt. Zusammen mit Huber wurde er am 13. Juli des Jahres hingerichtet. Graf wurde am 12. Oktober 1943 hingerichtet.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Aufruf an alle Deutsche!

Der Krieg geht seinem sicheren Ende entgegen. Wie im Jahre 1918 versucht die deutsche Regierung alle Aufmerksamkeit auf die wachsende U-Boot-Gefahr zu lenken, während im Osten die Armeen unaufhörlich zurückströmen, im Westen die Invasion erwartet wird. Die Rüstung Amerikas hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, aber heute schon übertrifft sie alles in der Geschichte seither Dagewesene. Mit mathematischer Sicherheit führt Hitler das deutsche Volk in den Abgrund. Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern! Seine und seiner Helfer Schuld hat jedes Maß unendlich überschritten. Die gerechte Strafe rückt näher und näher!

Was aber tut das deutsche Volk? Es sieht nicht und es hört nicht. Blindlings folgt es seinen Verführern ins Verderben. Sieg um jeden Preis! haben sie auf ihre Fahne geschrieben. Ich kämpfe bis zum letzten Mann, sagt Hitler – indes ist der Krieg bereits verloren.

Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit dem gleichen Maß gemessen werden wie Eure Verführer? Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehaßte und ausgestoßene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum! Beweist durch die Tat, daß Ihr anders denkt! Ein neuer Befreiungskrieg bricht an. Der bessere Teil des Volkes kämpft auf unserer Seite. Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!

Glaubt nicht der nationalsozialistischen Propaganda, die Euch den Bolschewistenschreck in die Glieder gejagt hat! Glaubt nicht, daß Deutschlands Heil mit dem Sieg des Nationalsozialismus auf Gedeih und Verderben verbunden sei! Ein Verbrechertum kann keinen deutschen Sieg erringen. Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt! Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen über die, so sich feig und unentschlossen verborgen hielten.

Was lehrt uns der Ausgang dieses Krieges, der nie ein nationaler war?

Der imperialistische Machtgedanke muß, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden. Ein einseitiger preußischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen. Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird. Jede zentralistische Gewalt, wie sie der preußische Staat in Deutschland und Europa auszuüben versucht hat, muß im Keime erstickt werden. Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. Nur eine gesunde föderalistische Staatenordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem Leben zu erfüllen. Die Arbeiterschaft muß durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden. Das Truggebilde der autarken Wirtschaft muß in Europa verschwinden. Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt!

Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.

Unterstützt die Widerstandsbewegung, verbreitet die Flugblätter!



Quelle: Fünftes Flugblatt der Weißen Rose [nach einem Entwurf von Hans Scholl und Alexander Schmorell mit Korrekturen von Kurt Huber] (Januar 1943); abgedruckt in Inge Scholl, Die Weiße Rose. Frankfurt am Main und Hamburg: Fischer Bücherei ,1955, S. 147-50.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite