GHDI logo


Heinrich Böll über die psychologische Auswirkung des Wirtschaftswunders (1960)

In der kurzen Beschreibung einer mitternächtlichen Taxifahrt zum Bahnhof bringt der linkskatholische Schriftsteller Heinrich Böll seine Kritik an der Unterdrückung der NS-Schuld und seine Abscheu angesichts der allgemeinen Habgier und moralischen Desorientierung der meisten Deutschen in der Zeit des Wirtschaftswunders zum Ausdruck.

Druckfassung     Dokumenten-Liste letztes Dokument im vorherigen Kapitel      nächstes Dokument

Seite 1 von 3


Hierzulande


Als wir um Mitternacht zum Hauptbahnhof fuhren, schwiegen wir bedrückt; unser Gespräch war mißglückt; der Besucher hatte von mir genaue Auskunft über die Bundesrepublik erwartet, aber ich war nicht fähig gewesen, über ein so ungenaues Land genaue Auskunft zu geben. Für dieses gemischte Gebilde, das Bundesrepublik heißt, eine Formel zu finden, dazu wäre sogar ein Einstein der Formulierung nicht fähig. Eine Frage des Besuchers: „Was unterscheidet die Menschen hier eigentlich von denen im Jahre 1933?“ hatte ich mit einem „Natürlich nichts“ beantwortet, dann eine winzige Korrektur hinzugefügt: „Es geht ihnen wirtschaftlich besser als denen damals.“ Die Frage: „Gibt es noch Nazis in diesem Land?“ Meine Antwort: „Natürlich, hatten Sie erwartet, ein nacktes Datum, der 8. Mai 1945, habe die Menschen verwandelt?“

Auf dem Wege zum Bahnhof im Taxi fügte ich, ohne noch einmal gefragt worden zu sein, auf die vor Stunden gestellte Frage noch hinzu: „Sie werden hierzulande niemals jemand sagen hören: Deutschland ist besiegt worden, immer werden sie hören: Zusammenbruch. Mit den Worten ‚nach dem Zusammenbruch’ bezeichnet man die Zeit von Mai 45 bis zur Währungsreform, oder zurückblickend nennt man sie: vor der Währungsreform. Die Zeit vom 20. Juni 1948 bis heute nennt man: nach der Währungsreform, im Volksmund schlichter: vor und nach der Währung, wobei mit ‚vor der Währung’ instinktsicher auch die Kriegszeit, in der das Geld strömte, gemeint ist. Wir leben im Jahre 12 nach der Währung. Vor dem Zusammenbruch hatten wir die Nazizeit, die hinwiederum in sechs Jahre Frieden und sechs Jahre Krieg zerfällt.“ [ . . . ]

Der Besucher antwortete nicht; auch der Taxichauffeur schwieg; er war schlecht gelaunt; drei Stunden auf Kundschaft warten, dann eine Fahrt zu 4,80 DM; die Aussicht, wieder drei Stunden warten zu müssen; das kann einem schon die Laune verderben. Taxifahren ist hierzulande unpopulär, wie Telefon und Scheckbuch; diesen nützlichen Einrichtungen haftet noch der Geruch der Verschwendung an. [ . . . ] Jemand, der hierzulande ein Scheckbuch „zückt“, hat einige Aussicht, als wohlhabend zu gelten, und doch kostet ein Scheckbuch nur fünfundsiebzig Pfennige, und die fünfzig Schecks, die es enthält, sind sehr nützlich bei dem Sport, den man, will man kreditfähig werden, sozusagen als Anfangssport betreiben muß. Der Sport heißt: „Bewege dein Konto“. Wenn man zweitausend Mark fünfzigmal bewegt hat, sind es einhunderttausend, und das ist ein stattlicher Umsatz. Umsatz ist alles, er bringt Kredit, höheren, vielleicht sechstausend, und diese dann, hundertmal bewegt, machen einen Umsatz von sechshunderttausend. Man muß nur wissen, wie man sein Konto bewegt: hin und her, her und hin; die Seifenblase darf nicht platzen. Kein Wunder, daß in einem Land, wo die landläufigen Vorurteile gegen Rechnen und Mathematik immer noch salonfähig sind, diejenigen, die den Sport fleißig ausüben, einige Aussicht auf Erfolg haben. Adam Riese hat umsonst gelebt; rechnen zu können gilt fast als ein Makel; wenn sich doch herumsprechen würde, wie gut Goethe rechnen konnte! Die Straßen waren leer in dieser Septembernacht, nur einige Fahrzeuge des städtischen Fuhrparks waren unterwegs; leise drehten sich die Kehrichtwalzen, sanft summten die Motoren der Sprengwagen. Der Taxifahrer nahm die Zigarette, die mein Besucher ihm anbot, dankend an; er würde niemals – und vielleicht ist diese Erkenntnis der Teil einer Formel – dem Fahrgast eine angeboten haben; nicht etwa, weil er geizig wäre, sondern weil dieser für ihn in diesem Augenblick etwas repräsentiert, das in diesem Land angebetet und zugleich verachtet wird: Kunde. Volkswirtschaftlich ausgedrückt: Verbraucher. Wir sind ein Volk von Verbrauchern. Krawatten und Konformismus, Hemden und Nonkonformismus, alles hat seine Verbraucher, wichtig ist nur, daß es sich – ob Hemd oder Konformismus – als Markenartikel präsentiert. Weder Instinkt noch Erfahrung des Verbrauchers reichen aus, Qualität festzustellen; so verlangt man verbriefte Qualität; verbriefte Qualität aber ist teuer. [ . . . ]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite