Der zwölfte Tag Während der Landrat in Schmalkalden über das Wohl und Wehe des Kreises Bad Salzungen, über Aufteilung oder Fortbestand, verhandelt, fahre ich – dieses Mal allerdings angemeldet – zu seinem Freund René. Und weil ich schon eine Stunde vor der Verabredung mit ihm in Stadtlengsfeld bin, gehe ich in das Café, das ich kenne. Nur eine etwa vierzigjährige Frau mit wuschligen schwarzen Haaren und noch jugendlich strahlenden braunen Augen sitzt dort. Trinkt Kakao. Ich setze mich zu ihr, und anscheinend ist sie froh darüber, denn ohne daß ich mühsam ein Gespräch beginnen muß, erzählt sie, daß sie Kurpatientin in der hiesigen alten Wasserburg sei. Dort würden neuerdings auch Frauen mit psychischen Problemen behandelt. Nein, sie hätte es natürlich nicht mit dem Kopf, aber wäre, wie andere Frauen auch, schlecht über die Wende gekommen. Allerdings ginge es ihr im Vergleich zu anderen noch gut. Ihre Zimmergenossin beispielsweise, eine ehemalige LPG-Vorsitzende – nach der Wende LPG weg, Mann weg, Häuschen weg und Grund und Boden weg! Sie dagegen hätte nach der Wende sogar dazugewonnen [ . . . ]
Sie stellt sich vor und läßt mir ein Glas Rotwein bringen. »Annegret S. Buchhändlerin in einer Thüringer Kleinstadt.« 1970 hätte sie ihre Lehre als Buchhändlerin in der Volksbuchhandlung begonnen, die ihr inzwischen sozusagen »gehören« würde. »Schon als Kind bestand die Welt für mich eigentlich nur aus Büchern. Wenn ich in die Bibliothek ging, nahm ich heimlich auch den Leseausweis meiner Mutter und den meines Vaters mit. Für mich lieh ich Märchenbücher aus, für meine Mutter Liebesromane und für meinen Vater Kriminal- oder Indianerbücher. Und alle habe ich gelesen.«
Seit fast dreißig Jahren Buchhändlerin, kenne sie aus der Weltliteratur natürlich die aufregendsten Geschichten. Aber nach der Wende hätte sie nichts mehr lesen müssen, da hätte sie die spannendsten Geschichten live erlebt.