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Die Evangelischen Kirchen und der Osten (15. Oktober 1965)

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Es ist nicht Aufgabe einer kirchlichen Denkschrift, Vermutungen darüber anzustellen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die abwartende Haltung gegenüber unseren östlichen Nachbarvölkern aufzugeben. Aber das formale Argument, daß nur eine künftige gesamtdeutsche Regierung zu so weittragenden Entscheidungen befugt sei, kann es nicht länger rechtfertigen, auch die Klärung der hier auf dem Spiel stehenden Grundsatzfragen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Das deutsche Volk muß auf die notwendigen Schritte vorbereitet werden, damit eine Regierung sich ermächtigt fühlen kann zu handeln, wenn es nottut. Solche Vorbereitung ist auch darum unabweisbar geworden, weil die weltpolitische Situation sich gegenüber den 50er Jahren deutlich verändert hat. Während sich damals in Ost und West zwei ideologisch bestimmte Machtblöcke gegenüberstanden, die ein selbständiges Handeln einer deutschen Regierung nahezu ausschlossen, sind heute die Fronten in Bewegung geraten. In dieser Lage erwarten auch die westlichen Verbündeten der Bundesrepublik Deutschland von dieser einen Beitrag zur Entspannung, der nur möglich ist, wenn die Regierung damit rechnen kann, im deutschen Volk Verständnis und Zustimmung zu einem Schritt im Geiste der Versöhnung gegenüber unseren östlichen Nachbarvölkern zu finden.

Welche Schritte im einzelnen das Ziel der Versöhnung und Neuordnung am besten fördern, kann wiederum nicht in dieser Denkschrift erörtert werden. Sicher ist nur, daß es nicht genügen wird, den deutschen Rechtsstandpunkt starr und einseitig zu betonen, daß auf der anderen Seite aber einer deutschen Regierung auch nicht zugemutet werden kann, ihren Rechtsstandpunkt von vornherein und bedingungslos preiszugeben. Vielmehr wird es zunächst darauf ankommen, im deutschen Volk selbst und nach außen eine Atmosphäre zu schaffen, in der dann auch in einzelnen Schritten Akte der Versöhnung mit den östlichen Nachbarn möglich werden.

Das setzt gewiß voraus, daß auch bei diesen Völkern der Wille zur Versöhnung besteht oder geweckt werden kann. Sie müssen sich also die kritische Frage gefallen lassen, ob sie in ihrer so oft zur Schau getragenen Selbstgerechtigkeit gegenüber Deutschland verharren wollen. Aber das Gespräch darüber kann erst in Gang kommen, wenn das deutsche Volk zu erkennen gegeben hat, daß es seinerseits der Versuchung widerstehen will, sich in Selbstgerechtigkeit zu verhärten.

Die vorliegende Denkschrift maßt sich also nicht an, den zum politischen Handeln berufenen Instanzen die Handlungswege vorzuzeichnen. Aber sie sieht eine Aufgabe der Kirche darin, dem deutschen Volk die Ziele, auf die es ankommt, deutlicher bewußt zu machen, als das in der innerdeutschen Diskussion meist geschieht, und die in dieser Diskussion so oft zutage tretenden Widerstände gegen diese Ziele auszuräumen. Ist damit der Handlungsraum der Politiker erweitert, so bleibt es ihre Aufgabe, von dieser Möglichkeit den rechten Gebrauch zu machen.



Quelle: R. Henkys, „Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift“. Stuttgart, 1966, S. 214 ff; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Hg., Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970. Göttingen, 1988, S. 508-10.

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