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Ernst Dronke: Auszüge aus Berlin (1846)

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Das Verschwinden des einzelnen in die Gesamtheit ist der vorzüglichste Charakterzug der Stadt; daher die Ungezwungenheit, die Selbständigkeit des einzelnen, der nicht nötig hat, sich vor kleinstädtischen, philisterhaften Vorurteilen in acht zu nehmen. Ein vielseitiges, allgemeines Gesellschaftsleben — dies ist der Eindruck, welchen das bewegte Treiben der Hauptstadt auf den Fremden macht. Von einem bestimmten, beschränkten Parteiausdruck, wie man es in der Ferne ausschreit, von Pietismus oder Irreligiosität, von servilem, „Preußentum" oder radikalem Jakobinismus, ist in dem öffentlichen Gemeinleben Berlins keine Spur. Die Elemente sind für sich vorhanden, aber nur in kleinen Atomen eines großen Ganzen. Einzelne Elemente mögen höchst kläglich sein, aber das allgemeine Leben in jeder großen Stadt ist angenehm, doppelt angenehm vor allen deutschen Hauptstädten in Berlin, weil es hier der ernstere, strebende Sinn anregender macht. Die stinkenden Gossen, der Staub der Straßen im Sommer sind ohne Zweifel eine unangenehme Zugabe, aber diejenigen, welche an Berlin immer diese Vorstellung knüpfen, vergessen, daß sich das Leben nicht in den Gossen und dem Staub bewegt. Das öffentliche Gesamtleben ist der Pulsschlag dieser Stadt. Auf den Straßen, in der Öffentlichkeit wogt und rauscht alles durcheinander, vornehm und gering, reich und arm: keiner ist beschränkt durch den anderen. Nur in den häuslichen Umfriedungen machen sich die Verschiedenheiten des Kastenwesens noch geltend. Die hohe Aristokratie, die Creme, wie sie sich nennt, hat ihre Wohnsitze in einigen Teilen der Friedrichstadt aufgeschlagen. Ihr Hauptstandquartier ist Unter den Linden und in demjenigen Teil der Wilhelmstraße, welcher zunächst an die Linden stößt. Man kann sehen, wie klein das Häuflein dieser Kaste ist, wenn es sich in anderthalb Straßen ausbreiten kann, und doch gehören ihnen selbst diese anderthalb Straßen nicht ausschließlich. Unter den Linden hat sich die mächtige Bourgeoisie in ihre Reihen eingedrängt, und an dem entgegengesetzten Ende der Wilhelmstraße, dem Halleschen Tor zu, findet man bereits einzelne Höhlen des Proletariats. Die mittlere Bourgeoisie, das Krämer- und Fabrikantentum, hat sich in der Königstadt und weiter hinaus nach der Luisenstadt ausgedehnt. Dieser Kaste folgt konsequent das Proletariat auf dem Fuße nach, und so findet man es sowohl in den Dachkammern und Kellern der Handelshäuser wie in den Hütten neben den Fabriken. Nur ein Teil des Proletariats und der düstersten Armut birgt sich wie ausgestoßen aus dieser Gesellschaft draußen vor den Toren des nordwestlichen Stadtteils. Dort ist das Elend in seiner letzten, furchtbarsten Gestalt. Alles, was hier verkehrt, steht mit Polizei und Gericht in Verbindung, denn die Fessel der Armut kettet sie auf die dürre Heide des Verbrechens. Diese Parias hören nichts von dem Branden und Brausen des inneren Lebens der Hauptstadt, und wenn sie hineinkommen, so bezeichnet das Blut der Wachen und Polizeisoldaten und die Angriffe gegen Eigentum und Leben der Einwohner die Spuren ihres Weges.

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