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Wilhelm Heinrich Riehl: Auszug aus Land und Leute (1851)

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In den Jahren 1848 und 49 war Rheinhessen vorzugsweise demokratisch gestimmt. Diese Provinz aber würde wohl ganz andern Geist behauptet haben, wenn man Mainz nicht bei der Anlage der Taunus- und Main-Neckar-Eisenbahn zu Gunsten des künstlichen Landesmittelpunktes, nämlich Darmstadts, in die Ecke geschoben hätte. Ähnliche Tatsachen wird man bei fast allen natürlichen Stapelplätzen des Handels und Verkehrs behaupten können, und es knüpft sich daran eine Kette beachtenswerter Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren zu machen Gelegenheit hatten. Es ist ein tiefgehender Haß, eine fort und fort in aufreizendem Kleinkriege begriffene Eifersucht der natürlichen historischen Städte gegen die künstlichen, dem ganzen Zuge der Geschichte ins Gesicht schlagenden, in unsrer revolutionären Bewegung (1848) durchgebrochen. In manchen kleineren Ländern lief der Freiheitsdrang weit mehr hinaus auf eine Erlösung des Landes von der Last seiner künstlichen Hauptstadt, als von allen den Lasten zusammengenommen, die man von dieser Hauptstadt aus seit Menschenaltern dem Lande aufgebürdet hatte. Hiemit hängt die auffallende Wahrnehmung zusammen, daß an so vielen alten Sitzen der Industrie und des Handels nicht etwa bloß unter dem Proletariat, sondern gerade unter den begüterten Geschäftsleuten der Radikalismus herrschte, daß namentlich in vielen ehemaligen Reichsstädten, die vor allem die Wiege des echtkonservativen deutschen Bürgerstandes gewesen, jetzt die auflösenden modernen Gesellschaftslehren am leichtesten Eingang fanden. Der alte Groll über die Stiefmutterliebe, welche der moderne Staat dem materiellen Flor dieser Städte erwiesen, hatte in der politischen Bewegung einen neuen Zündstoff gefunden und so jene wunderliche Verkehrtheit der Parteibildung erzeugt, derzufolge der besitzende, gediegenste Bürger mit den heimat- und besitzlosen Aposteln des Umsturzes Hand in Hand ging.

Wenn ich von künstlichen Städten und künstlichen Landesmittelpunkten rede, dann denke ich etwa an Karlsruhe im Gegensatz zu Mannheim, Konstanz u. s. w., an Stuttgart im Gegensatz zu Eßlingen, Reutlingen, Heilbronn u. s. w., an Darmstadt im Gegensatz zu Mainz und Frankfurt, an Wiesbaden im Gegensatz zu Limburg, an die Hauptstädte der deutschen Nordweststaaten im Gegensatz zu Hamburg, Lübeck und Bremen – und so fort durch fast aller Herren Länder. Es beruht aber die in Rede stehende Naturwidrigkeit und Verschrobenheit bei den künstlichen Städten nicht etwa darin, daß sie überhaupt als Städte existieren – denn viele derselben sind uralt – auch nicht darin, daß sie zufällig Residenzen sind, was sich meinetwegen auch auf lange Jahrhunderte zurückdatieren mag, sondern einzig und allein darin, daß man diese Städte künstlich zu Verkehrsmittelpunkten, zu Industriesitzen, zu großen Städten hat hinaufschrauben wollen. Wir finden bei den künstlichen Städten ganz dasselbe Verhältnis wie bei den Kleinstaaten, die wohl das Recht hätten zu leben, wenn sie nur nicht als Großstaaten leben wollten. Und in der Tat sind die künstlichen Städte die rechten Stützpunkte und Strebepfeiler der Kleinstaaterei, denn beide haben gleiche Ursache, sich vor jeder naturgemäßen Reform unsrer nationalen Zustände zu fürchten.

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Quelle: Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute (1851). Stuttgart and Berlin: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, 1908, S. 89-96.

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