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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

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Doch schließen sich alle diese Ergänzungen an das von Jesu Gegebene auf's beste an, wenn man nur erst dieses selbst als eine menschliche, mithin der Fortbildung so fähige als bedürftige Errungenschaft begriffen hat. Faßt man hingegen Jesum als den Gottmenschen, als das von Gott in die Menschheit hereingestellte, allgemein und ausschließlich gültige Musterbild auf, so muß man natürlich jede Ergänzung dieses Musters von sich weisen, seine Einseitigkeit und Unvollständigkeit zur Regel machen, und gegen alle diejenigen Seiten menschlicher Thätigkeit, die in demselben nicht vertreten sind, ablehnend oder doch nur äußerlich regulirend sich verhalten. Ja, indem neben und über dem von Jesu dargestellten sittlichen Musterbilde er selbst als der Gottmensch stehen bleibt, an welchen zu glauben noch außer und vor der Anerkennung jenes Musterbildes Pflicht des Menschen und Bedingung seiner Seligkeit sei, so wird dadurch das, worauf eben Alles ankommt, in zweite Linie zurückgedrängt, die sittliche Größe Jesu in ihrer vollen Wirksamkeit verkümmert, auch die sittlichen Pflichten, die ihre Geltung nur daher haben können, daß sie in der Natur des menschlichen Wesens liegen, in das falsche Licht positiver göttlicher Gebote gestellt. Darum lebt der Kritiker der Ueberzeugung, keinen Frevel an dem Heiligen zu begehen, vielmehr ein gutes nothwendiges Werk zu thun, wenn er alles dasjenige, was Jesum zu einem übermenschlichen Wesen macht, als wohlgemeinten und zunächst vielleicht auch wohlthätigen, in die Länge aber schädlichen und jetzt geradezu verderblichen Wahn hinwegräumt, das Bild des geschichtlichen Jesus in seinen schlicht menschlichen Zügen, so gut es sich noch thun läßt, wiederherstellt, für ihr Seelenheil aber die Menschheit an den idealen Christus, auf jenes sittliche Musterbild verweist, an welchem der geschichtliche Jesus zwar mehrere Hauptzüge zuerst in's Licht gesetzt hat, das aber als Anlage ebenso zur allgemeinen Mitgift unserer Gattung gehört, wie seine Weiterbildung und Vollendung nur die Aufgabe und das Werk der gesammten Menschheit sein kann.



Quelle: David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu. Leipzig: Alfred Kröner Verlag (ohne Jahr), Band 2, S. 158-62.

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