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Aus einem Vortrag von Oberstudiendirektor Kurt Hahn anläßlich des Lehrgangs für Sexualerziehung der Jugend auf der Jugendburg Bilstein/Sauerland (14. September 1950)

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Die Jungen sind ja schon von der Straße aufgeklärt, sie stellen sich, wenn der Lehrer keine innere Fühlung mit ihnen gewinnt, nur so einfältig, als beträten sie Neuland. Die Frage lautet überhaupt nicht: Aufklären oder nicht? Es handelt sich vielmehr darum, dem jungen Menschen im gesamten Biologieunterricht Stück für Stück zu zeigen, daß Gott ihm mit seinem Leib ein Wunderwerk anvertraut hat, welches schändlich zu entweihen ebenso in unserer Macht steht wie die beglückende Erfüllung der lebensweiten Aufgabe, es zu adeln und als Tempel des Geistes ehrfürchtig und zuversichtlich zu hüten.

Neben dem Biologieunterricht ist besonders der Deutsch- und Religionsunterricht zu sexualpädagogischer Erziehung unserer Jugend geeignet. Namentlich unserer reiferen Jugend werden die ethischen Fächer in dieser Beziehung viel geben können, streben doch gegen Ende der Reifezeit allmählich Sexualität und Erotik zu versöhnender Harmonie zusammen. Von der Ordnung der ganzen Seele aus wird hier das Geschlechtsleben geschaut, seine Regelung vom Körper allein aus dagegen als unmöglich erkannt. Im Deutschunterricht der Oberstufe bietet Goethes Faust wohl mehr als jede andere Dichtung Gelegenheit, nicht nur die apollinischen Licht- und dionysischen Schattenseiten unserer schöpfergewollt dem Geschlechtlichen verhafteten Menschheit an der sich nicht zu wahrer Liebe durchzuringen vermögenden tragischen Gestalt des Dr. Faust herauszuarbeiten, sondern auch in die persönliche Sphäre der Schüler vorzustoßen.

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Beim Klassenbesuch eines Zoos wird der Sexualpädagoge die Affenkäfige besonders beachten. Bekanntlich lenken die offen zur Schau getragenen und nach menschlichen Begriffen häßlichen Genitalien der Affen stets die besondere Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Die einzelnen Schüler wissen sich weniger beobachtet als in der Schulstube und geben sich daher natürlicher. Ihr Verhalten beim Anblick der Affen ist bis zu einem gewissen Grade ein Kriterium für ihre sittliche Reife. Ein zynisches Lächeln, Augenzwinkern, Anstoßen und dgl., wie man es nicht selten selbst bei Erwachsenen antreffen kann, zeigt uns sogleich, wes Geistes Kind der Beschauer ist.

Ähnlich liegen die Dinge beim Besuch eines Kunstmuseums mit der Klasse. Das führt uns zu dem Problem der menschlichen Nacktheit. Es muß jeden Jugendlichen die Beobachtung nachdenklich stimmen, daß im Leben die menschliche Nacktheit streng gemieden, in der Kunst dagegen verherrlicht wird. Nur der ganz reife Mensch ist eben fähig, den nackten lebendigen Menschenleib in Reinheit zu schauen. Auch die Betrachtung einer Aktskulptur oder eines Aktbildes als reines Kunstwerk ohne sinnliche Nebengedanken setzt eine zuchtvolle Seele voraus. In seinem Kapitel «Das Beilager der Blumen» faßt Carl Linné so treffend die im Vorangehenden kurz skizzierten Gegensätze in die Worte zusammen: «Die Genitalien der Pflanzen betrachten wir mit Vergnügen, die der Tiere mit Abscheu und unsere eigenen mit wundersamen Gedanken.» Der reifere Schüler muß als Ergebnis der Sexualerziehung in der Lage sein, in dem menschlichen Leib mehr als nur etwas Körperhaftes zu sehen, er muß durch den Leib hindurch die Seele ahnen. Und dieses Vermögen führt ihn aus der niederen Sinnenlust hinaus in ein verklärendes Licht.

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(Hahn war von 1920 bis 1933 Leiter des Internats in Salem.)



Quelle: Die Höhere Schule (1951), Nr. 6; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 296-98.

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