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Ein Journalist kommentiert die Notwendigkeit, der frühkindlichen Bildung mehr Aufmerksamkeit zu schenken (30. Juni 2006)

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Welch ein Wandel! Um als gute Kita zu gelten, reichten lange Zeit helle Räume, elternfreundliche Öffnungszeiten und nette Kindergärtnerinnen, die am Rand der Sandkiste nicht rauchten. Stand gar noch ein Öko-Essen auf dem Speiseplan, waren selbst kritische Akademikereltern zufrieden. In gezielter Abgrenzung zur staatlich organisierten Rundumversorgung der Kleinsten in der DDR regierte im Westen bis Ende der neunziger Jahre die gezielte Anspruchslosigkeit.

Frühestens ab drei Jahren sollten die Kinder von der Mutter getrennt werden, und dann auch bitte nur am Vormittag. Gleichzeitig galt es, die Mädchen und Jungen mit möglichst intensiven Spielen, Singen und Basteln vor jeder Art von Bildung zu bewahren. Zahlen und Buchstaben hatten in der Kita nichts zu suchen. Über Jahrzehnte sei die Bedeutung der Jahre vor der Schule »systematisch unterschätzt« worden, kritisiert Wassilios Athenakis, ehemaliger Leiter des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München.

Erst der Pisa-Schock brachte die Wende und lenkte den Blick nicht nur auf die Schule, sondern ebenso auf die Jahre davor. Dabei entdeckte man, dass ausgerechnet jene Nation, die einst den »Kindergarten« erfand und damit einen Begriff schuf, den heute selbst Franzosen, Engländer oder Spanier verstehen, inzwischen selbst zu einem frühpädagogischen Entwicklungsland geworden war (jedenfalls in Westdeutschland). Zwar haben alle Eltern für ihre Kinder ab drei Jahren seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Doch der gilt in der Regel nur für vier Stunden am Vormittag. Nur jede dritte Kita bietet in den alten Bundesländern überhaupt eine Ganztagsbetreuung an. Noch schlechter ist hier die Versorgung der Kinder unter drei Jahren. Nur drei von hundert Kindern finden in diesem Alter eine Krippe.

Denkbar niedrig ist auch das Ausbildungsniveau. Das deutsche Kita-Personal lernt auf Fachschulen. Im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern Europas benötigt nicht einmal die Leitung einer Einrichtung hierzulande ein Hochschulstudium. In der Medizin wäre das so, als ließe man Vorschulkinder nur von Krankenschwestern behandeln, da man universitär ausgebildete Ärzte für dieses Alter nicht für nötig hielte. Für Abiturienten ist der Erzieherberuf deshalb unattraktiv, selbst guten Realschülern bietet er kaum eine berufliche Perspektive. Die Schmalspurausbildung hat Folgen. »Vierjahreszeiten-Pädagogik« nennen Kritiker den ewig gleichen Rhythmus, an dem sich noch immer viele Kitas entlang hangeln: Zu Ostern werden Körbchen gebastelt, im Herbst Blätterbilder geklebt, im Winter Weihnachtssterne.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie jene des in Bielefeld lehrenden Pädagogen Gerhard Friedrich finden nur schwer den Weg in den Arbeitsalltag der Erzieher. Friedrich schickte Kita-Kinder ins »Zahlenland«, wo sie mit Märchen, Spielen und Musik die Ziffern eins bis zehn erkunden sollten. Bereits nach zehn Stunden gezielt-spielerischen Trainings waren diese Kinder anderen Gleichaltrigen im Zahlenverständnis um ein Jahr voraus. [ . . . ]

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