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Auswirkungen einer Großen Koalition auf das Politikgeschehen (22. November 2005)

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Daher sollten am Ort kompromissorientierter Verhandlungen keine Scheinwerfer stehen, sollten keine hochmotivierten Kernanhängerschaften das Publikum bilden. Wenn die Vertreter sehr unterschiedlicher Parteien verhandeln, dann hat man in der Tat die Türen fest zu verschließen, alle Zuschauer rigide zu verbannen, den eigenen Kreis denkbar klein zu halten. Intransparenz fördert die Vernunft, mäßigt die schrille Konfliktrhetorik, rüstet den politischen Volkstribunen ab.

Natürlich, säuselnde Sonntagsredner der demokratischen Tugendhaftigkeit wird das empören. Aber der koalitionspolitische Kompromiss entsteht am ehesten und besten in oligarchischen, elitären, der Öffentlichkeit strikt entzogenen Entscheidungszirkeln, die über politische Autonomie und ausreichend Spielraum verfügen. Marionetten des Basiswillens und Tempelhüter von Parteiidentitäten sind für Verhandlungs- und Ausgleichssysteme – wie eben die Kompromissbildung in einer großen Koalition – gänzlich ungeeignet.

Es ist in der Tat damit zu rechnen, dass ein Koalitionsausschuss von etwa acht bis zehn Menschen in den nächsten Jahren die politischen Großkompromisse schmiedet und die Gesetzesmechanik bedient. Aber was bleibt dann noch von der Grundsatzdebatte im Parlament, von der Orientierungsfunktion der Parteien, vom aufklärerischen Ethos der Demokratie? Eben all dies: Aufklärung, Orientierung und Generaldebatte. Denn in den Koalitionsrunden tummeln sich lediglich die Maschinisten des Kompromisses, die Techniker der Konsensfindung. Dort arbeiten sie allein das klein, was andere an großen Konzeptionen und Perspektiven entworfen haben. Die Kauders, Münteferings, Strucks und de Maizières dieser Welt mögen perfekte Organisatoren des politischen Prozederes sein, aber irgendeine interessante Idee, eine originäre Vorstellung von Zukunft, gar eine politische Gestaltungsarchitektur hat man von diesen politischen Administratoren des Hier und Jetzt noch nie vernommen. Über dergleichen Begabungen verfügen sie nicht, müssen sie auch nicht verfügen. Sie sind pure Handwerker der Macht, keine Konzeptionalisten, keine Visionäre, auch keine charismatischen Redner. Im Grunde führen sie nur aus, machen machbar, was andere geprägt und – oft zugegebenermaßen undeutlich – vorgezeichnet haben. Prägen, konzipieren, entwerfen, vordenken, Ideen hervorbringen, die große Debatte führen, Zukunft antizipieren, Themen setzen, die wesentlichen Inhalte von Gesellschaft und Politik definieren – das ist die Aufgabe von brillanten Parlamentariern und anspruchsvollen Parteileuten. Keine Koalitionsrunde kann ihnen diese Funktion wegnehmen.

Zentrum der politischen Entwürfe

Und der politische Bewegungsraum dafür ist im Deutschen Bundestag unter den Bedingungen der großen Koalition breiter als sonst. Große Koalitionen lockern die Fesseln der Disziplin, lösen den Druck der Uniformität. Die Möglichkeiten für abweichende Positionen, gesonderte Gruppierungen, unorthodoxe Anträge und eigensinnige Redebeiträge sind größer als in Zeiten kleiner Koalitionen mit knappen, also prekären Mehrheiten. Zwischen 1966 und 1969 war das Selbstbewusstsein der deutschen Bundestagsabgeordneten deshalb erheblich angewachsen. Die Regierungsfraktionen sahen sich nicht mehr ausschließlich als parlamentarische Exekutive des Kabinetts, sondern als primärer Ort der Willensbildung und Themensetzung.

So sollte sich auch der Deutsche Bundestag in den kommenden vier Jahren verstehen: als Zentrum der politischen Entwürfe. Eben daran hat es in den letzten Legislaturperioden gemangelt. Das Parlament hat nicht an Einfluss verloren, weil parakonstitutionelle Koalitionsrunden und Expertenkommissionen auftraten; komplexe Gesellschaften kommen ohne solche informellen Strukturen und Verhandlungssysteme längst nicht mehr aus. Das Parlament hat an Bedeutung eingebüßt, weil die Abgeordneten zuletzt nicht mehr fähig waren, große Ziele zu umreißen, Normen zu begründen, Maßstäbe und Prioritäten zu bestimmen, sinnstiftende Zusammenhänge zu komponieren. Der Verlust an inhaltlicher, auch oratorischer und imaginativer Substanz hat die Stellung des Bundestages beschädigt.

Moderne, fragmentierte, aufgeklärte Gesellschaften sind auf beides angewiesen: Auf kompromissfähige Effizienz und auf charismatisch-programmatische Überzeugungskraft. Beides gedeiht in unterschiedlichen Arenen mit gegensätzlichen Logiken. Eben das macht Politik so schwierig, oft auch schwer verständlich. Politische Koalitionen benötigen effektiv, verlässlich und verschwiegen operierende Elitezirkel für die Kompromissbildung. Sie brauchen aber auch selbstbewusste, öffentlich agierende Parlamentarier, die die großen Linien ziehen, einprägsame Begriffe kreieren, mehr noch: die dem politischen Bündnis orientierende Leitvorstellungen voranstellen können. [ . . . ]



Quelle: Franz Walter, „Die Türen fest geschlossen“, Frankfurter Rundschau, 22. November 2005, S. 7.

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