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Ein Jahr Große Koalition (20. November 2006)

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Beide wissen allerdings, daß sie es mit einem im Grunde konservativen Volk zu tun haben. Mit Veränderungen werden hierzulande eher Risiken verbunden als Chancen. Die notwendigen Reformen lassen sich deshalb nur durchsetzen, wenn es den Parteien gelingt, das Gefühl der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit zu bekämpfen, das bis weit in die Mittelschicht hinein anzutreffen ist. Rüttgers nahm sich, nicht nur zum Ärger der SPD, der Aufgabe mit Begeisterung an. Dieser Alleingang genügte schon, um in der CDU sofort wieder die Richtungsfrage aufzuwerfen.

Doch auch die Kanzlerin sucht dem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis der Deutschen verstärkt Rechnung zu tragen: Kleine Schritte machen nicht so viel Angst wie große, und Ziele verwirren die Wähler nicht so wie Details. Allerdings muß Frau Merkel darauf achten, daß ihre Reformagenda nicht verschwimmt und die Koalitionsparteien nicht schon jetzt in einen Wettstreit eintreten, wer sich am wenigsten bewegen kann. Das wird sich in den Jahren drei und vier dieses Bündnisses, so es sie erlebt, ohnehin zeigen. Der Koalition und der Kanzlerin bleibt im wesentlichen nur das kommende Jahr, um ihre Platzierung in den Geschichtsbüchern zu verbessern. Noch fehlt der Erfolg, der das alles überragende Trauerspiel Gesundheitsreform vergessen machen könnte. Auch der ansehnlichen Außenpolitik gelang das bisher nicht.

Mit der Landtagswahl in Hessen Anfang 2008 beginnt die dichtgestaffelte Reihe der Zwischenabrechnungen. Schon jetzt lassen sich die Ministerpräsidenten, denen das Hemd näher ist als die Jacke, kaum noch von der Kanzlerin bändigen. Der Profilierungsdrang der drei Koalitionsparteien wird immer größer werden, je näher die Bundestagswahl kommt. Viel erwarten sollte man sich von der zweiten Hälfte der Amtszeit dieser Koalition nicht.

Dann aber haben es wieder die Wähler in der Hand, über den weiteren Weg der Republik zu bestimmen. Die von Auszehrung gezeichneten Volksparteien fiebern schon jetzt einem klaren Mandat entgegen, das sie von ihrer Zwangsehe erlöste. Deutschland ist zu wünschen, daß dieses Fieber zur Epidemie wird.



Quelle: Berthold Kohler, „Ein Abbild dieses Landes“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. November 2006. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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