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Prof. Schultze-Naumburg und Walter Gropius, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen” (1926)

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gebunden an den ungeheuren aufwand technischer und stofflicher mittel, folgt die entwicklung nur schrittweise der vorauseilenden idee. da bauen kollektive arbeit ist, hängt sein gedeihen nicht nur vom einzelnen, sondern vom interesse der gesamtheit ab. die lust am bauen muß gesteigert werden. die unermeßliche wohnungsnot gibt uns dazu die natürliche handhabe.

wie können wir billige, gute, unserer zeit entsprechende wohnungen schaffen? allgemein brauchbare lösungen, die dieser zeit entsprechen, sind noch nicht entstanden, weil das problem des wohnungsbaues an sich noch nirgends in seinem ganzen soziologischen, wirtschaftlichen, technischen und formalen gefüge erfaßt und danach planmäßig und im großen von grund auf gelöst wurde. der strategische generalplan, das „wie wollen wir wohnen“ als allgemein gültiges, aus den geistigen und materiellen möglichkeiten der gegenwart gefundenes denkergebnis, existiert noch nicht. entspricht es unserer art zu leben, daß jedes individuum eine ganz andere wohnstätte als das andere hat? wir tragen das gleiche moderne gewand, das jedem individuum dennoch seinen spielraum läßt; warum bauen wir nicht unsere häuser ebenso?

die wirtschaftsfrage steht überragend im vordergrund. Die versuche, die bisherige handwerkliche bauweise unserer wohnhäuser durch schärfere betriebsmethoden zu verbilligen, haben nur geringe fortschritte gebracht. das problem wurde nicht an der wurzel gepackt. das neue ziel ist der montagetrockenbau, d. h. fabrikmäßige herstellung von wohnhäusern im großbetrieb auf vorrat, die nicht mehr an der baustelle, sondern im wesentlichen in spezialfabriken in montagefähigen einzelteilen erzeugt werden müssen. das würde einen baukasten im großen bedeuten, der es ermöglichte, ein wohnhaus wie einen schuh vom lager zu beziehen.

erfahrene fachleute schätzen die auf diesem wege zu erwartenden bauersparnisse gegenüber den bisherigen baumethoden auf 50 prozent und mehr. die verbilligung der dinge des täglichen bedarfs entstand durch eine vermehrung der mechanischen kräfte – dampf und elektrizität – gegenüber der handarbeit; von ihrer ausnutzung wird auch die verbilligung des hausbaues abhängen.

die mehrzahl der bürger zivilisierter völker hat gleichartige wohn- und lebensbedürfnisse. es ist also nicht einzusehen, warum nicht das wohngehäuse, das wir uns schaffen, eine gleich einheitliche prägnanz aufweist, wie unsere kleider, schuhe, koffer, automobile. es ist durch nichts gerechtfertigt, daß jedes haus unserer neuen vorstädte einen anderen grundriß, eine andere außenform, einen anderen baustil und andere baumaterialien aufweist. im gegenteil bedeutet dies eine sinnlose verschwendung und eine parvenuehaft-unkultivierte formlosigkeit. das alte bauernhaus im norden und im süden, das bürgerhaus des 18. jahrhunderts zeigt in allen europäischen ländern eine einheitliche, fast uniforme gestaltung des grundrisses und der gesamtanlage. einer völligen uniformierung allerdings, wie sie etwa das englische vorstadthaus aufweist, muß begegnet werden, denn die vergewaltigung des individuums ist immer kurzsichtig und falsch.

die geplante baumethode muß infolgedessen daraufhin abzielen, daß nicht die ganzen häuser, sondern die bauteile typisiert und industriell vervielfältigt, sodann aber zu verschiedenen haustypen zusammenmontiert werden können. die vorratsplanung würde sich auf die herstellung aller zum bau gehörigen einzelteile in verschiedenen spezialfabrikbetrieben zum abruf nach bedarf an die baustelle, als auch auf praktisch erprobte montagepläne für verschiedenartige und verschieden große haustypen erstrecken. da alle maschinell hergestellten und auf normenmaß gefertigten teile unbedingt zusammenpassen, ist die montage auf grund der exakt durchgeführten montagepläne in kürzester zeit unter geringstem arbeitsaufwand und unabhängig von jahreszeit und witterung zum teil mit ungelernten arbeitern möglich.

praktische wege zur durchführung dieses fabrikmäßigen serienbaues sind in deutschland und anderen ländern bereits beschritten worden.

vom künstlerischen standpunkt aus muß das neue bauverfahren bejaht werden. die annahme, eine industrialisierung des hausbaues werde eine verhäßlichung der bauformen nach sich ziehen, ist irrig. im gegenteil wird eine vereinheitlichung der bauelemente die heilsame folge haben, daß die neuen wohnhäuser und stadtteile gemeinsamen charakter tragen. eintönigkeit ist nicht zu befürchten, sobald die grundforderung erfüllt wird, daß nur die bauteile typisiert werden, die daraus errichteten baukörper aber variieren. gut verarbeitetes material und klare, einfache konstruktion dieser maschinell in serien hergestellten teile werden die einheitliche „schönheit“ der daraus erbauten gebäude verbürgen, nicht etwa ästhetische, aus konstruktion und material nicht bedingte schmuckformen und profile. die gute gestalt der einzelnen bauten hängt von der raumschöpferischen begabung des erbauers ab, dem für die anwendung der bauelemente individueller spielraum, den wir alle wünschen, bleibt. die wiederkehr der einzelteile und der gleichen materialien in den verschiedenen baukörpern wird ordnend und beruhigend auf uns wirken, ähnlich wie die einheitlichkeit unserer kleidung, die dennoch nicht das individuum vergewaltigt.

das umfassende problem der industrialisierung des wohnhausbaues kann nur mit aufbietung außergewöhnlicher öffentlicher hilfsmittel durchgeführt werden. es fehlt an den sammelnden zentren, die nach einheitlichen führungsgedanken das bisher erreichte planhaft zusammenfassen und weiterführen. wir brauchen öffentliche bauversuchsplätze. denn genau so wie ein gegenstand, den die industrie vervielfältigen will, in seiner gestalt zahllosen versuchen systematischer vorarbeit, an der der kaufmann, techniker und künstler gleichermaßen beteiligt sein müssen, entspringt, ehe sein formtypus, die norm, gefunden wird, kann die herstellung typisierter bauteile nur in großzügigem zusammenschluß der industriellen, wirtschaftlichen und künstlerischen welt zur durchführung gelangen.

eine so tiefgreifende veränderung der bauwirtschaft wird sich freilich nur allmählich vollziehen. aber allen einwänden zum trotz wird sie unaufhaltsam kommen. ein hauptprodukt der industrie der zukunft wird sein: das fix und fertig eingerichtete massive wohnhaus auf vorrat. sind erst die umfassenden ziele moderner baukunst erreicht, so wird unsere zeit mit ihnen ihren eigenen stil gefunden haben!

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