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Der Auslandseinsatz (2. November 2006)

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Schulz ist sehr müde in letzter Zeit. Er geht um neun ins Bett und träumt dann Träume, die er früher nicht kannte: Er steht mitten in einer Party. Er besucht seine Eltern zu Hause. Er träumt Normalität. Und er liest im Koran. Er will nichts falsch machen. Er hat gelernt, mit der P1 zu schießen, mit der P8, dem G36 und dem MG3. Er hat gelernt, sich mit Laub zu tarnen, zu funken und Lkw zu fahren. Er kann einen Satz Pashtu: »Melgäro Mellatuna – Dreesch, ka ne se dasee kawum!«, lautmalerisch für: »Vereinte Nationen – stehen bleiben, oder ich schieße!«

Er hat wie ein Schüler in der »Landeskunde Afghanistan« gesessen, auf dass er ein politisch korrekter Soldat werde, falls das möglich ist. Er hat gelernt, dass Afghanistan ein »Land der Distanzunterschreitung« ist, in dem ihm Kinder sehr nahe rücken werden. Er hat gelernt, dass er bei einem Unfall keine verletzte Frau berühren darf, auch wenn sie vor seinen Augen stirbt. Dass ein Topf am Straßenrand auch eine Bombe sein kann. Und dass der Moment, in dem er beim Blick aus seinem Wagen sieht, dass er gefilmt wird, der Augenblick seines Todes sein könnte, weil al-Qaida ihre Attentate filmt.

Manchmal schreckt er auf. »Was, wenn ich ein Schaf überfahre? Ein Kind?« Er wird nicht viel sehen durch die Luken seines Panzerwagens. Schulz hat so viel gehört, gelesen, geübt, doch am Ende wird sein Leben auch vom Zufall abhängen. Ob er einen Meter weiter links oder rechts fährt, ob der Topf am Straßenrand wirklich nur ein Topf ist, ob er zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Ist das Krieg?

Schulz weiß jetzt, dass er Tankstellenpächter werden möchte wie sein Vater, wenn er zurück ist. Aber er muss da jetzt durch, er möchte es auch, »ich will zeigen, mir ist die Welt nicht scheißegal«. Das kann nicht jeder Besserwisser mit Abitur von sich behaupten.

Am nächsten Morgen marschiert Schulz mit zweihundert Mann durch einen lichten Nebel zum Abschiedsappell. Die erste Kälte des Winters ist da. Atemwolken stehen vor den Gesichtern der Soldaten. Zweihundert Silhouetten stehen stramm, eine von ihnen ist Schulz, allein mit seinen Gedanken. Er hat sein Testament geschrieben. Alles geht an seine Schwester. Vorn sagt ein Oberst: »…ist der Auslandseinsatz ein nicht ungefährlicher Einschnitt in das Leben unserer Soldaten … im Auftrag des deutschen Volkes…« Ein Marsch wird gespielt. Den Jahresbeitrag für den Modellbauverein hat er schon überwiesen. Er muss noch Weihnachtsgeschenke für seine Eltern kaufen, sein Auto abmelden. In seiner Lebensversicherung sind aktives und passives Kriegsrisiko abgesichert. Jetzt tritt die Oberbürgermeisterin nach vorn, eine kleine Frau auf hohen Absätzen, und überreicht ein Ortsschild der Stadt Brandenburg.

Als die Nationalhymne verhallt, beginnen für die Soldaten die »Kuschelwochen«, verordneter Abschiedsurlaub in den Familien.

[ . . . ]

In den Tagen vor dem Abflug treibt Schulz in einem Ozean aus Zeit. Er fährt mit seinem Vater zum Hochseefischen nach Heiligenhafen, doch sie brechen ab, die Wellen sind zwei Meter hoch. Schenkt seiner Mutter eine Brosche. Lässt Fotos von sich und der Schwester machen. Trifft so viele Freunde, wie er kann. Was Alltag war, ist nun Leben.

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