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Die Konservativen: Friedrich Julius Stahl: „Was ist die Revolution?” (1852)

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Der Ursprung der Revolution ist in jener Denkart, welche man jetzt durch den Ausdruck Rationalismus bezeichnet. Der Rationalismus ist dieselbe Erscheinung auf dem innerlichen religiösen Gebiete, welche die Revolution auf dem äußerlichen politischen Gebiete ist. Rationalismus ist die Emancipation des Menschen von Gott; das Heraustreten des Menschen aus Gottes Hand, um auf sich selbst zu stehen und Gott nicht zu bedürfen, und nicht zu beachten; daß der Mensch nicht der Offenbarung bedürfe, weil seine Vernunft weise genug ist, und nicht des Gnadenbeistandes, weil sein Wille stark genug ist, und nicht der Sühne durch das Blut Christi, weil seine Tugend rein genug ist, und daß er es verschmäht, von Gott zu empfangen, weil das seiner Würde entgegen ist. Aus dem Rationalismus kommt jene Vermessenheit und Zuversicht des philosophischen Systems, welches aus menschlicher Kraft die letzten Gründe des Weltzusammenhanges aufdecken will; ja, welches es unternimmt, das ganze All der Dinge als bloßen Ausfluß der Gesetze der menschlichen Vernunft zu erweisen, und er vollendet sich in seiner nothwendigen Entfaltung als pantheistische oder selbst materialistische Weltanschauung. Rationalismus ist deswegen nicht dasselbe mit Unglauben. Die Pharisäer in ihrer Selbstgerechtigkeit waren Ungläubige, aber nicht Rationalisten; die Sadducäer in ihrer Leichtfertigkeit waren Ungläubige, aber nicht Rationalisten. Der Rationalismus ist nicht bloß Unglaube an Gott; er ist ein Gegenglaube an den Menschen. Darum ist auch der Rationalismus in seinen Anfängen noch verträglich mit dem Glauben an Gott und das Christenthum. Aber in seiner reifen Frucht erscheint er als das, was er schon in seinem Samen war, als die Selbstvergötterung des Menschen.

Durch diesen Ursprung im Rationalismus wird das Wesen der Revolution noch klarer. Der Mensch stößt in seinem Herzen Gott vom Throne und setzt sich selbst auf seinen Stuhl. Das ist die Urumwälzung. Alle andere Umwälzung ist nur die Folge. Darum, als die Revolution auf ihren Höhepunkt gelangt war, schaffte sie auch sichtbarlich die Gottesdienste ab, und betete die menschliche Vernunft an in ihren Tempeln. Und die zweite Zukunft der Revolution, wie sie bereits angekündigt ist, die sociale Republik, zeigt im Voraus die zwei großen Inschriften: „Leugnung Gottes und Emancipation des Fleisches."

Auf das Wesen der Revolution und des Rationalismus paßt deshalb vollständig, was vorhergesagt ist von „dem Menschen der Sünde, der sich im Tempel Gottes niedersetzt und anbeten läßt." Zwar geht diese Vorhersagung auf einen bestimmten Menschen, eine Persönlichkeit. Aber das ist ja durchaus der Gang, daß die weltbewegenden Mächte zuerst als allgemeines Element das Menschengeschlecht erfüllen, und dann erst in ihrer höchsten Steigerung sich als Individualität, als eine einige bestimmte Persönlichkeit darstellen. Ist es nun bereits im vollsten Schwange, daß das Menschengeschlecht sich die Gottheit beilegt, wie wenig gehört dann noch dazu, daß eine mächtige Persönlichkeit, getragen von dem Fanatismus der Massen, sich als den Repräsentanten der Gottheit des Menschengeschlechts erkläre und Anbetung fordere.

Rationalismus und Revolution sind darum nicht beständige oder immer wiederkehrende Erscheinungen in der Geschichte des Menschengeschlechts. Sie sind die reine scharfe Herausstellung des bösen Princips. Sie treten darum im bestimmten Momente in die Weltgeschichte ein, bilden eine bestimmte, vielleicht die letzte, Stufe in der Entwickelung des Kampfes zwischen den Geistern des Lichts und den Geistern der Finsterniß. Sie sind vielleicht der Anfang des Endes, die Zeichen des Eintritts in die apokalyptische Zeit. — —

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