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Gedanken zur Forderung nach einer deutschen Leitkultur (4. November 2000)

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Der Gast, der blieb

Selbst in den Konzepten des Multikulturalismus, die Ende der 80er aus kirchlichen und grünen Kreisen kamen, war das nicht anders. Angeblich mussten die „Ausländer“ erst mal säkularisiert werden und ihre Bindung an vormoderne Sitten und Gebräuche aufgeben. Dabei wurde freilich übersehen, dass die deutsche Gesellschaft zumindest in Bezug auf Religion keineswegs so enttraditionalisiert ist, wie die meisten hierzulande glauben. Zudem gingen z.B. Thomas Schmid und Daniel Cohn-Bendit in ihrem Buch „Heimat Babylon“ davon aus, dass die Migranten „lernen“ müssen, sich in die „Wertvorstellungen der Deutschen“ einzufinden. Was diese „Werte“ beinhalten, das konnten die beiden Grünen damals so wenig sagen wie Friedrich Merz heute.

Tatsächlich wird die „deutsche Leitkultur“ heute weniger dadurch aufrechterhalten, dass die Einheimischen genau wissen, worin ihre kulturelle Identität eigentlich besteht. Vielmehr wird die „Leitkultur“ zumeist über eine spiegelverkehrte Abgrenzung vom Bild der Migranten markiert: „Wir“ können uns für modern halten, weil „sie“ traditionell sind; „wir“ sind tolerant, weil „sie“ sich intolerant benehmen; in „unserer“ Gesellschaft ist die Emanzipation der Frauen längst verwirklicht, weil bei „ihnen“ die Frauen sichtbar unterdrückt werden etc.

Im Gegensatz zu Frankreich oder Großbritannien ist in Deutschland mit „Wir“ immer nur die Gemeinschaft der Einheimischen gemeint – dieses „Wir“ klingt für alle Personen mit nichtdeutschem Hintergrund immer völlig exklusiv. Allerdings erscheinen die Migranten oft wenig entgegenkommend. Ihre Communities wirken auf die meisten Einheimischen heimatbezogen und verschlossen. Das türkische Männercafé oder die Frau mit Kopftuch scheinen zu einer anderen Welt zu gehören. Zweifellos kennen etwa viele griechische Migranten erster Generation in der eigenen Stadt noch heute wenig mehr als ihren Arbeitsplatz, die Griechische Gemeinde und den Weg zum Flughafen. Der Rückbezug auf ein imaginäres Heimatland oder die eigene Tradition wurzelt jedoch nicht in der prinzipiellen Abwehrhaltung der Migranten, sondern in den Aufnahmebedingungen in Deutschland. Von Anfang an wurde den Migranten der Zugang zur Staatsbürgerschaft fast unmöglich gemacht und damit die politische Beteiligung erschwert. Bis heute kann obendrein die Mitgliedschaft in einer politischen Migrantenorganisation ein Grund für die Verweigerung der Staatsbürgerschaft sein. So blieb den Einwanderern nichts anderes übrig, als sämtliche Community-Aktivitäten in Kulturvereine zu verlagern.

Dabei wurde der kulturelle Bezug auf das Herkunftsland von den deutschen Behörden durchaus gefördert. Schließlich sollten die „Gäste“ ja wieder zurück nach Hause und sich zwischenzeitlich ihrer „Heimat“ nicht allzu stark entfremden. Insofern sind sowohl die realexistierende „Leitkultur“ als auch die oft traditionell wirkende Kultur der Migranten das Ergebnis der politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik – und die waren von Anfang an ausgrenzend und zudem überaus chaotisch. Integration war stets wenig mehr als ein Schlagwort; konkrete Maßnahmen wurden nur wenige ergriffen. Noch heute ist nicht einmal die Versorgung mit Sprachunterricht ausreichend. Und schließlich hieß Anpassung immer Anpassung an die kaum zu greifende deutsche Kultur, während Mitbestimmungsrechte erst nach der Integration kommen sollten. Auch in Frankreich wurde Assimilation gefordert, jedoch eine staatsbürgerliche Assimilation an die Republik – Ethnizität und Kultur gelten strikt als Privatsache. Zweifellos werden im Nachbarland die Republik und die französische Kultur in der Realität gern miteinander verwechselt, doch dort haben die Migranten als Bürger wenigstens die Gelegenheit, sich gegen diese Verwechslung zu engagieren. Die jüngsten deutschen Neuregelungen wie das Reförmchen des Staatsbürgerrechtes oder die Einführung so genannter Greencards haben keine Bewegung in die statische Situation gebracht. Die alten Einwanderer verzichten auf eine Staatsbürgerschaft, die als Zwangsinstrument daherkommt, die neuen qualifizierten Einwanderer kamen erst gar nicht. Wenn die Union heute von „Leitkultur“ schwadroniert, zielt sie im Grunde auf die Ausgrenzung von Migranten.

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Quelle: Mark Terkessidis, „Das Spiel mit der Herkunft“, Der Tagesspiegel, 4. November 2000.

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