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Kosmopolitismus und Patriotismus vermischen sich während der Fußballweltmeisterschaft (19. Juni 2006)

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Die Mannschaft ist jetzt das Zentrum, von der die gute Stimmung abstrahlt ins Land. Klinsmann, der außer Michael Ballack keine Stars in seinen Reihen hat, wollte ein Kollektiv schmieden, eine Einheit. Das ist ihm bislang gelungen. Und mehr noch: Solange die Mannschaft Erfolg hat, eint sie auch das Land.

Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. Und das ist neu, denn bei den Debatten der vergangenen Monate ging es mehr um Unterschiede, um Unvereinbarkeiten. Es ging um eine Unterschicht, deren Kontakt zum gesellschaftlichen Leben abgerissen wurde. Es ging um Einwanderer, die sich den Landessitten nur schwerlich anpassen. Es ging um Ostdeutsche, die immer noch nicht in der Bundesrepublik angekommen sind. Diese Gruppen vereinen sich nun während der WM, in den Stadien und vor den Leinwänden.

Es ist die 64. Minute, als die Fans auf den Rängen merken, dass Deutschland Unterstützung braucht. Es steht 0:0, die Polen scheinen stärker zu werden, das Spiel könnte kippen.

Aus der Ostkurve, Oberrang, schallt es „Deutschland, Deutschland“, die Rufe breiten sich aus über die ganze Arena, werden immer lauter, dann taucht plötzlich der junge David Odonkor auf dem Bildschirm auf. Er wird gerade eingewechselt, und die Menschen im Stadion stehen auf, schreien, trampeln.

Dies ist nicht das Westfalenstadion in Dortmund. Dies ist die Arena in Berlin. Adidas hat eine kleine Kopie des Berliner Olympiastadions auf die Wiese vor dem Reichstag gebaut, eine Arena aus Plastik und Stahl, mit Kunstrasen, mit Oberrang und Unterrang, mit Platz für rund 10 000 Menschen. Die Karten kosten drei Euro, eigentlich.

Kurz vor dem Anpfiff standen viele Fans mit kleinen Pappkartons vor dem Eingang, sie suchten Tickets. Im Abendrot funkelte die Inschrift „Dem Deutschen Volke” über dem Reichstagsportal, der Anpfiff rückte näher, und auf dem Schwarzmarkt kletterten die Preise.

Einige bezahlten am Ende 40 Euro für ein Ticket, 40 Euro, um Fußball im Fernsehen gucken zu dürfen. Es ist nicht mal eine große Leinwand, auf die sie starren. In jedem deutschen Wohnzimmer kann man vermutlich besser sehen. Aber es geht nicht um Bildqualität.

Es geht darum, Emotionen zu teilen. Kurz vor Spielbeginn, als das Fernsehen aus Dortmund die Nationalhymne überträgt, erheben sich in Berlin alle von ihren Sitzen und singen mit. Später klatschen sie rhythmisch, sie lassen La Ola, die Welle, kreisen, sie toben und kreischen und zittern und freuen sich.

Sie bezahlen 3 oder auch 30 Euro, um mit ihren Emotionen nicht allein zu sein, um andere zu hören, zu sehen und zu spüren. So wird die Großbildleinwand zum Lagerfeuer, um das man sich auf der Suche nach Wärme schart, und der Fußball zum Kleber einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet. Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe. Im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.

Im Jubel lösen sich auch Gegensätze zwischen Ost und West auf, indem sich mancher im Osten plötzlich als Bundesbürger erkennt.

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