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Kosmopolitismus und Patriotismus vermischen sich während der Fußballweltmeisterschaft (19. Juni 2006)

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Steg geht die Treppe vom Saal hinunter. „Momentan können wir diese Pressekonferenzen eigentlich sein lassen”, murmelt er. Er geht über die Straße in den Open-Air-Bereich des MediaClubs, es ist ein künstlicher Strand direkt an der Spree, mit Planschbecken und einer Leinwand, auf der die Spanier gerade die Ukraine vernaschen. Steg muss noch kurz mit der Kanzlerin sprechen, dann setzt er sich in einen roten Liegestuhl und krempelt die Ärmel hoch.

Er sagt, es gebe tatsächlich eine unglaubliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit im Lande und dass man sich einem solchen Weltereignis offenbar nicht entziehen könne, selbst die Politik nicht.

Als die Kanzlerin am Morgen die Kabinettssitzung eröffnet, erzählt sie zunächst vom dicken Ronaldo, dessen Gewicht ja sogar der brasilianische Präsident Luiz Inácio „Lula” da Silva schon problematisiert habe, und das offenbar zu Recht. So viel habe sie am Vorabend im Berliner Olympiastadion jedenfalls mitbekommen. Erst dann leitete sie über zum Elterngeld.

Steg sagt, die Politik habe ihren eigenen Rhythmus, der sich von außen nicht verändern lasse, es werde regiert wie vorher auch. Andererseits sei es falsch zu glauben, die Politik könne die WM für sich nutzen, die Begeisterung sei irgendwie umleitbar auf die Politik. „Die Ängste und Sorgen der Menschen treten jetzt vielleicht etwas in den Hintergrund”, sagt Steg. „Aber das ist schnell wieder vorbei. Darauf kann man nichts bauen.”

Die eigentliche Bundespressekonferenz findet jetzt beinahe täglich im ICC in Berlin statt. Derzeit ist es das „DFB-Medienzentrum”. Hier spricht Bundestrainer Jürgen Klinsmann zu den Journalisten. Hier werden die Sätze gesagt, die Deutschland elektrisieren. Und von hier wird auch der Patriotismus befeuert.

Am Mittwoch vor dem Spiel gegen Polen sagte Klinsmann im Medienzentrum: „Es ist schön zu sehen, dass man einen gemeinsamen Traum hat. Ich kenne das aus den USA. Am Unabhängigkeitstag, am 4. Juli, hängen überall die Fahnen. Ja, das ist schön. Ich häng dann die deutsche raus.”

Wird nun ganz Deutschland von Klinsmann amerikanisiert? Mit der Mannschaft hat er es schon gemacht, mit amerikanischen Fitnessprogrammen und einer amerikanischen Corporate-Identity-Ideologie. Das wurde oft belächelt, ist aber, wie es derzeit aussieht, ein Gewinn für den deutschen Fußball.

Es ist diese neue Kombination von Leichtigkeit und Leidenschaft, die den Deutschen im Ausland wenige zugetraut hätten. Früher spielte Deutschland ziemlich einfallslos, verbissen, im Visier hatte dieses Deutschland nichts als das Resultat, und darum werden Deutschlands Fußballer in England, Spanien oder Italien immer noch als Panzer beschrieben. Diesmal aber überraschen die Deutschen die anderen und wohl auch sich selbst damit, dass ein anderes Modell möglich ist: mit Kraft, mit Tempo, mit Phantasie bis zur letzten Minute auf Sieg zu spielen.

Sind Reformen doch möglich in diesem Land? Denn genau dies hat Jürgen Klinsmann gewollt: ein spielendes Deutschland, kein mauerndes. Ein Deutschland, das nicht gelähmt ist von der Angst vor dem Scheitern, ein Deutschland, das voller Hoffnung und mit einer Idee antritt. Ein begeisterndes Deutschland auf dem Platz, ein begeistertes auf den Rängen. „Die Stimmung in Deutschland ist gigantisch, in allen Städten ist eine einzige Party”, das sagte Klinsmann nach dem 1:0 gegen Polen, nach seinen Hüpfern vor der Trainerbank, dem Schlusspfiff, „diesen Momenten, die man nicht vergessen wird”.

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