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Kosmopolitismus und Patriotismus vermischen sich während der Fußballweltmeisterschaft (19. Juni 2006)

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Man könnte sagen: Alles ist wunderbar, lasst uns dieses Fest genießen. Aber es gibt ein „aber”. In Deutschland gibt es immer ein großes „aber”, wenn es um Deutschland geht.

Ist das nicht schon zu viel Schwarzrotgold auf den Plätzen und Bildschirmen? Darf man das Deutschlandlied inbrünstig singen? Sind nicht die Hooligans, die in Dortmund randaliert haben, mit dem Schlachtruf „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da“ losgestürmt und haben damit das Misstrauen mancher Deutscher gegen das Deutschtum bestätigt?

Schon will die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Broschüren verteilen, die vor dem Absingen der Nationalhymne warnen. Sie sei aufgeladen mit der Stimmung von Nationalsozialismus und deutscher Leitkultur. Schon ist das Land wieder in eine seiner beliebten Debatten um seine Identität verstrickt.

Dahinter steckt die große Frage, ob diese Weltmeisterschaft und der Freudentaumel Deutschland nachhaltig verändern, ob die Deutschen neues Selbstbewusstsein tanken und zeigen werden. Eine andere Frage ist, ob sie die neu gewonnene Einheit in Fröhlichkeit konservieren können.

Die Suche nach Antworten beginnt da, wo die Leute sind, deren Hauptberuf es eigentlich ist, das Land zu verändern – im Berliner Regierungsviertel.

Es ist Mittwochnachmittag, acht Männer und zwei Frauen sitzen hinter einer hellbraunen Holzverkleidung, über ihnen prangt ein Schriftzug: Bundespressekonferenz. Es sind die Sprecher der Ministerien. In der Mitte sitzt Thomas Steg, stellvertretender Sprecher der Bundesregierung.

Gekommen sind 19 Journalisten, Plätze gibt es für 300. Es ist die Veranstaltung, bei der die Journalisten die Arbeit der Regierung hinterfragen, ihre Schwächen offenlegen, nachbohren. Normalerweise.

„Ja, meine Damen und Herren, heute morgen hat das Kabinett turnusmäßig getagt und es gibt einige Beschlüsse“, sagt Steg. Er zählt die Themen auf: Elterngeld, Migrationsbericht, Erneuerbare-Energien-Gesetz, kurz EEG, und, „letzter Punkt aus der Kabinettssitzung“, die Fortsetzung der Uno-Mission UNMEE in Äthiopien und Eritrea. Deutschland sei daran mit zwei nicht bewaffneten Beobachtern beteiligt, sagt Steg. Es sieht so aus, als werde regiert wie eh und je, als könne nichts den Lauf der Maschine beeinträchtigen.

So, sagt Steg. Gibt es Fragen?

Es gibt ein paar Fragen, eine zum Urheberschutzrecht, eine zur Mehrwertsteuer, noch eine zum Nichtraucherschutz. Sie lassen sich alle schnell beantworten. Es ist warm im Saal, es dauert nicht mehr lange bis zum Anpfiff von Spanien gegen Ukraine, am Abend spielt Deutschland. Es wird zwar nicht über Fußball gesprochen, aber die WM hinterlässt selbst hier ihre Spuren. Niemand hat Lust, weiter zu fragen, es ist Zeit, die Pressekonferenz zu beenden.

Für die Große Koalition ist die Weltmeisterschaft ein Glücksfall. Sie kommt über das Land in einem Moment, da die Regierung ihre Schwächen offenbart, in dem sie sich selbst blockiert und in den großen Fragen, der Gesundheitspolitik etwa, nicht mehr weiter weiß oder aber Gesetze durchbringt wie am vergangenen Freitag: Da wurde die Mehrwertsteuer erhöht, die Pendlerpauschale gekürzt, die Eigenheimzulage gestrichen. Gesetze sind das, die in normalen Zeiten für viel Aufregung sorgen würden. Aber es bekommt fast niemand mit. Vermutlich könnte die Bundesregierung gerade auch die Mehrwertsteuer verdoppeln, und kaum einen würde es interessieren.

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