GHDI logo

Chinesische Touristen genießen den Geschwindigkeitsrausch auf der Autobahn (22. Juli 2004)

Seite 4 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Dann rasen sie weiter nach Süden, mit 240 Stundenkilometern der Alpenwand am Horizont entgegen, in lang gezogenen Kurven durchs grüne Allgäu, das aussieht, als habe ein Tourismusmanager jedem Hügel ein Kirchlein aufgesetzt. Die Gruppe besichtigt Neuschwanstein, das Münchner Hofbräuhaus, dann fährt sie in den Schwarzwald. Inmitten von Rentnern, die ihre Knirps-Regenschirme wie Schlagstöcke tragen, schieben sich die fünf zum Titisee. Guofeng Wang kauft eine Kuckuksuhr und eine Armbanduhr für 400 Euro, Pingsheng Ding eine Kuckucksuhr für 200 Euro. Ihre Tage beginnen um acht Uhr morgens mit dem Hotelfrühstück und enden spätestens um zehn Uhr abends auf den Zimmern. Sie gehen an sechs Tagen fünfmal chinesisch essen, schlürfen und schmatzen ein bisschen und überprüfen dauernd die Bilder ihrer Digitalkameras. Niemand schert aus der Gruppe aus.

[ . . . ]

In Metzingen im Nordschwarzwald, inmitten der deutschen Provinz, lärmt nun die Welt. Noch eine Nacht in Deutschland, noch eine Chance, sich ein imageträchtiges Stück westlicher Welt zu kaufen. Der wahre Ortskern Metzingens besteht aus einem Parkhaus und einem Betonblock, an dessen Fassade HUGO BOSS geschrieben steht, Fabrikverkauf. Nebenan bieten Levi’s, Nike und Esprit Waren zweiter Wahl an. Aus den Umkleidekabinen dringt Russisch, Japanisch, Chinesisch. Schwäbelnde Frauen rollen metallene Kleiderstangen voller Anzüge über grau gestrichenen Beton. Männer tragen Einkaufstaschen, so groß wie bei Ikea. Frauen mit Etiketten an den Ärmeln drehen sich vor Spiegeln. Die fünf reden jetzt schnell, ihr Chinesisch wird hart, fast peitschenartig. Reiseleiter Ding hat ihnen 90 Minuten gegeben. Sie reiben Stoffe zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie blättern durch knisternd verpackte Oberhemden. China wird Markenland, neue Schichten suchen sich neue Symbole. Guofeng Wang, der Mann, der früher Mao-Blau trug, setzt wieder seine Parteitagsbrille auf und studiert die Etiketten. Qing Li sagt, Boss sei derzeit ein reizvoller Begriff in China: »Boss like boss, you understand?«

[ . . . ]

Am Ende zieht Li eine Kreditkarte aus seinem Versace-Portemonnaie und zahlt 244 Euro für fünf Poloshirts und zwei Paar Nike-Turnschuhe. Er liegt damit fast genau im für das Reiseland Deutschland so lukrativen Durchschnitt: Chinesische Touristen geben hier pro Tag 240 Euro aus, europäische nur 100. Und er bestätigt ein Sprichwort, das besagt, künftig werde China die Produktionsstätte der Welt sein, Amerika die Kornkammer und Europa, wenn es gut geht, die Boutique.

Der letzte Tag. Noch einmal spannt sich der Himmel hoch und blau über Doi Tse Lan. Rechts der A5 sonnt sich der Schwarzwald, und zwei dunkle Mercedes-Limousinen rollen »wieder mit großer Geschwindigkeit nach Frankfurt«, so hatte es auch im Prospekt gestanden. Der Tacho zeigt 150… 160… 170… im Radio beginnen die Nachrichten. Der Sprecher berichtet vom Streit über die Frage, ob die Deutschen künftig 40 Stunden pro Woche arbeiten sollen. Guofeng Wang, der müde von 1400 Kilometern auf der Rückbank sitzt, würde das auch gern schaffen: nur 40 Stunden pro Woche arbeiten. Draußen greift der Wind in die Kornfelder. Wang sagt, dass er bald wiederkommen will nach Doi Tse Lan. Mit seiner Frau. Er möchte, dass sie den blauen Himmel kennen lernt, die weißen Wolken, die frische Luft, die Stille.



Quelle: Henning Sußebach, „Im Reich der Stille“, Die Zeit, Nr. 31, 22. Juli 2004

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite