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Ein ostdeutscher Journalist kommentiert das Fehlen deutscher Einheit (25. August 2005)

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Ein Neuanfang würde eine ehrliche Bilanz voraussetzen. Eben deshalb fällt er so schwer. Die staatliche Vereinigung war 1990 politisch richtig und ist gelungen, aber sie muss nicht mit Angleichung und widerspruchsfreiem Einverständnis einhergehen. Eingestehen müsste man, dass der Aufbau Ost, das ehrgeizigste Unternehmen der vergangenen fünfzehn Jahre, in das die Deutschen einen Großteil ihrer Energie und ihrer Mittel investiert haben, gescheitert ist und dass auch Momente kultureller Fremdheit nicht weichen.

Auf Kohl und die Fehler der Anfangsjahre zu schimpfen, gehört inzwischen zum guten Ton. Dabei liegt der Skandal darin, dass all die Jahre so weitergemacht wurde, auch nachdem man sehen konnte, dass die Leitbilder der „Angleichung" und der „inneren Einheit" an den Abgrund führen.

Ein radikaler Neuanfang fällt schwer, weil es eine gemeinsame Öffentlichkeit kaum gibt. Die stille Gesellschaft in den neuen Ländern verweigert sich überwiegend den überregionalen Medien. Nach der systematischen Entbürgerlichung in der DDR, nach der Ausschaltung der sozialistischen Funktionseliten und der anhaltenden Abwanderung fehlt es im Osten an einem Bürgertum, einem Mittelstand, an Eliten. Der soziale Raum zwischen Familie und Staat ist nur schwach besetzt.

In den Parteien ist kaum jemand in Sicht, der sich des Themas annehmen würde. Die Ministerpräsidenten und Aufbau-Ost-Politiker scheinen zu sehr dem Umverteilungsapparat verpflichtet, der ein Teil des Problems ist. Meist hätscheln sie das patriotische Tabu.


Wer mag, kann weiterträumen

Es sei „Halbzeit" beim Aufbau Ost, hat Manfred Stolpe vor kurzem erklärt – und das klingt, als könnten wir in den kommenden fünfzehn Jahren erreichen, wovon wir 1990 träumten: eine starke, transferunabhängige Wirtschaft im Osten, gleiche Lebensverhältnisse und „innere Einheit". Fachleute, die im Auftrag des Stolpe-Ministeriums befragt wurden, sind da skeptischer.

Zuverlässig rechnen können wir mit einer starken innerostdeutschen Differenzierung in wenige städtische Zentren und unterentwickelte ländliche Regionen, mit weiterer Abwanderung und rascher Überalterung, mit bleibenden Unterschieden bei Einkommen und Vermögen, mit anhaltendem Transferbedarf und einer Tradierung ostdeutscher Besonderheiten. Der Verteilungskonflikt um die Transfergelder dürfte sich nicht mehr lange durch Solidaritätsbeschwörungen verdrängen lassen.

So wird uns der Ost-West-Gegensatz noch Jahrzehnte begleiten. Er tritt zu den vielfältigen neuen und alten Gegensätzen hinzu, verleiht ihnen eine besondere Färbung.

Alter und Arbeitslosigkeit etwa haben in den neuen Ländern ein anderes Gesicht, treffen sie doch eine Gesellschaft, in der noch vor kurzem soziale Bindungen nahezu vollständig in die Strukturen der Arbeitswelt eingelassen waren. Wer mag, kann weiter von „innerer Einheit" träumen und auf die nächste Ossi-Wessi-Hysterie warten.

Vernünftig wäre konfliktbewusste Gelassenheit. Sie setzte eine Kultur der Ungleichheit und der Unterschiede voraus. Im Osten wie im Westen ist darauf kaum einer vorbereitet.



Quelle: Jens Bisky, „Deutsche Einheit? Ost gegen West“, Süddeutsche Zeitung, 25. August 2005.

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