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Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis warnt vor einer Relativierung des Holocaust (9. November 1998)

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Nur damit Herr Walser und andere in ihrem Selbstbefinden nicht gestört werden und ihren Seelenfrieden finden können und der Eindruck des Instrumentalisierens nicht entsteht, kann man nicht darauf verzichten, Filme über die Schande zu zeigen. Da ich davon ausgehe, daß Walser, genau wie ich, nicht einer „Kollektivschuld“ das Wort redet, verstehe ich nicht, warum sich Walser beim Anschauen dieser Filme als Beschuldigter attackiert fühlt.

Der Begriff „Auschwitz“ ist keine Drohroutine oder ein Einschüchterungsmittel oder auch nur Pflichtübung. Wenn Walser darin eine „Moralkeule“ sieht, so hat er vielleicht sogar recht, denn man kann, soll und muß aus „Auschwitz“ Moral lernen, sollte es allerdings nicht als Keule betrachten. Ich muß unterstellen, daß es laut Walser möglicherweise nötig ist, die Moral als Keule zu benutzen, weil manche sie sonst vielleicht nicht lernen wollen.

Man kann zu dem Holocaust-Mahnmal in dieser oder jener Form unterschiedlicher Auffassung sein, und man kann auch überhaupt gegen die Errichtung eines solchen Mahnmals sein. Auf keinen Fall darf man den Entwurf, auch nicht dichterisch, als Alptraum bezeichnen, und schon gar nicht als Monumentalisierung der Schande. Die Schande war monumental und wird nicht erst durch ein Mahnmal monumentalisiert.

Diese Teile seiner Rede sind eines Friedenspreisträgers unwürdig. Was ich von der Rede halte, habe ich bereits zum Ausdruck gebracht. Dieser Trend in der Rede Walsers ist neuerdings deutlich spürbar. Der intellektuelle Nationalismus nimmt zu und ist nicht ganz frei von unterschwelligem Antisemitismus. Besonders irritiert bin ich über eine ganze Reihe von Zuschriften, die überrascht waren, daß ich Walser so kritisiere, denn dieser habe doch bloß das ausgesprochen, was die meisten ohnehin dächten. Walser und vielen geht es dabei auch um eine „Normalität“. Ich weiß nicht, was sie darunter verstehen. Für mich ist Normalität, daß zum Beispiel Juden glauben, wieder in Deutschland leben zu können, daß sich Juden im gesellschaftlichen wie im politischen Leben engagieren und daß wir eine Demokratie haben, wie es sie auf deutschem Boden nicht gegeben hat. „Normalität“ kann aber nicht bedeuten, die Erinnerung zu verdrängen und mit neuen Antisemitismen und einem neuen Rassismus, wie er bei rechtsextremen Parteien zum Tragen kommt, zu leben. [ . . . ]

Wir in der jüdischen Gemeinschaft haben von Kindheit an gelernt, daß das Erinnern ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte ist. Schon im Talmud heißt es: „Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung“. [ . . . ] Wir sind es den Opfern der Shoah schuldig, ihrer nicht zu vergessen! Wer diese Opfer vergißt, tötet sie noch einmal!




Quelle: Ignatz Bubis, „Gedenkrede zur Pogromnacht am 9. November 1938“, Süddeutsche Zeitung, 10. November 1998.

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