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Der Schriftsteller Martin Walser sinniert über die Schwierigkeit, mit der deutschen Schuld zu leben (11. Oktober 1998)

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Ergebnis der philosophischen Hilfe: Ein gutes Gewissen ist keins. Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei. Diese „durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst“ ist nicht repräsentierbar. Sie muß „innerliche Einsamkeit“ bleiben. Es kann keiner vom anderen verlangen, was er gern hätte, der aber nicht geben will. Oder kann. Und das ist nicht nur deutsche idealistische Philosophie. In der Literatur, zum Beispiel, Praxis. Bei Kleist. Und jetzt kann ich doch noch etwas Schönes bringen. Herrliche Aktionen bei Kleist, in denen das Gewissen als das schlechthin Persönliche geachtet, wenn nicht sogar gefeiert wird. Der Reitergeneral Prinz von Homburg hat sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten, der Kurfürst verurteilt ihn zum Tode, dann, plötzlich: „Er ist begnadigt!“ Natalie kann es kaum glauben: „Ihm soll vergeben sein? Er stirbt jetzt nicht?“ fragt sie. Und der Kurfürst: „Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt/ Trag ich im Innersten für sein Gefühl/Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten/Kassier' ich die Artikel; er ist frei!“

Also, es wird ganz vom Gefühl des Verurteilten abhängig gemacht, ob das Todesurteil vollzogen wird. Wenn der Verurteilte das Urteil für ungerecht halten kann, ist er frei.

Das ist Gewissensfreiheit, die ich meine. Das Gewissen, sich selbst überlassen, produziert noch Schein genug. Öffentlich gefordert, regiert nur der Schein. Birgt und verbirgt nicht jeder ein innerstes, auf Selbstachtungsproduktion angelegtes Spiegelkabinett? Ist nicht jeder eine Anstalt zur Lizenzierung der unvereinbarsten Widersprüche? Ist nicht jeder ein Fließband der unendlichen Lüge-Wahrheit-Dialektik? Nicht jeder ein von Eitelkeiten dirigierter Gewissenskämpfer? Oder verallgemeinere ich mich jetzt schon zu sehr, um eigener Schwäche Gesellschaft zu verschaffen? Die Frage kann ich doch nicht weglassen: Wäre die Öffentlichkeit ärmer oder gewissensverrohter, wenn Dichter und Denker nicht als Gewissenswarte der Nation aufträten? [ . . . ]

Das möchte man den Meinungssoldaten entgegenhalten, wenn sie, mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen. Sie haben es immerhin soweit gebracht, daß Schriftsteller nicht mehr gelesen werden müssen, sondern nur noch interviewt. Daß die so zustande kommenden Platzanweisungen in den Büchern dieser Schriftsteller entweder nicht verifizierbar oder baß widerlegt werden, ist dem Meinungs- und Gewissenswart eher egal, weil das Sprachwerk für ihn nicht verwertbar ist.

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Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Hg., Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Martin Walser. Ansprachen aus Anlaß der Verleihung. Frankfurt am Main: Verlag der Buchhändler-Vereinigung, 1998.

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