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Der sozialdemokratische Vordenker Peter Glotz warnt vor einer falschen Normalisierung (1994)

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Worum es geht, ist, den Gedanken Herders festzuhalten: Jede Sprache, jede Kultur, jeder Code ist ein Gedanke Gottes. Worum es gleichzeitig geht: den Gedanken Fichtes abzuweisen: Deutsch gegen Welsch, Reinheit gegen Vermischung. Die aufklärerische Utopie, die Welt wäre am schönsten, wenn alle Menschen dieselbe »Weltsprache« sprächen, ist arm. Die nationalistische Utopie, die Welt müsse am jeweils eigenen Wesen genesen, ist obskur, terroristisch. Europa, diese Völkermischzone par excellence, muß ohne solche Abziehbilder leben.

Bleibt die bange Frage nach den wiedervereinigten Deutschen. Hans-Jürgen Syberberg, so steht zu befürchten, ist kein Spinner, kein Outcast, sondern ein eitel-unvorsichtiger Avantgardist. Er hat politischen Rohstoff aufgegriffen, der vierzig Jahre unbeachtet auf der Straße lag – und er versteht sich auf Verknüpfungen. Teilen die Ökologen nicht seine Verachtung der Plastikwelt? Kann man die Affekte gegen Jazz und amerikanische Populärkultur nicht geschickt an die linke Kritik der Kulturindustrie anhängen? Läßt sich die Auflösung der Westbindung nicht fabelhaft als gesamteuropäischer Idealismus nach dem Motto »wir lieben Vaclav Havel und Lech Walesa« verkaufen? Deutschland bewegt sich, Deutschland muß sich bewegen. Aber wohin?




Quelle: Peter Glotz, „Die Bewaffnung mit Identität“, in Die falsche Normalisierung, die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994, Essays © Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main, 1S. 42-50.

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