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Der sozialdemokratische Vordenker Peter Glotz warnt vor einer falschen Normalisierung (1994)

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Dabei ist die Lage unbestreitbar verworren. Von der »Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle« reden auch ziemlich unverdächtige Leute, zum Beispiel Mitglieder der Führung der SPD: Identitätsphilosophie. Der Kampf der französischen und deutschen Filmregisseure gegen die Hollywoodisierung – Kampf um Identität. Haben die Kroaten nicht ein ursprüngliches Recht auf ihre für viele Jahrzehnte unterdrückte Nation? Selbst die linken baskischen Nationalisten schicken freundliche Telegramme nach Zagreb. Ist die Dominanz amerikanischer Massenkultur nicht wirklich ein Problem? Inzwischen fragen wir uns, ob wir die Widerstandsenergien des Black Nationalism weiter feiern können, wenn wir die Gewaltverherrlichung und den Sexismus im Punk der deutschen Ost-Skins zum Teufel wünschen? Andererseits – kann man wirklich die ganze Rock-Emotionalität abwürgen, nur weil sie auch von faschistischen Gefühlen – Vergewaltigungsphantasien, Schwulenfeindlichkeit, Springerstiefel-Brutalität – in Dienst genommen werden kann? Die bewußte Separation von Feministinnen hielten wir doch bisher für politically correct? Was läßt sich also gegen deutsche Identität sagen, wo doch Franzosen (Augstein schreibt es jede Woche) und Polen (der Freiheitsheld Walesa!) viel nationaler sind als die Deutschen?

Einerseits gilt: Selbstzuschreibungen, politische Subjektivitäten, Zusammengehörigkeitsgefühle, miteinander verkettete Kommunikationsmethoden sind unvermeidbar, legitim. Nationen sind empirisch, nicht ideologisch. Andererseits steckt in der Mythisierung von gemeinsamer Geschichte, Sprache, Landnahme und Kultur der Keim von Xenophobie und Nationalismus. Auch eine geringfügige Unschärfe im Blick kann uns Deutsche wieder zu Verbrechern machen. Gegen die achselzuckende Unbekümmertheit der Normalisierer gilt Alexander Kluges raffiniert-einfache Formel: »In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.« Der Mittelweg unserer neuerdings wieder forcierten Arglosigkeit, klug »Pragmatismus« genannt.


2.

Ich präpariere den Normalisierungs-Nationalismus am Beispiel des Regisseurs Hans-Jürgen Syberberg heraus, einer zugegebenermaßen ein wenig exzentrischen Species. Arnulf Baring, Jochen Thies, Reiner Zitelmann, Brigitte Seebacher-Brandt oder Christian Meier, die middle-of-the-road-Leute dieser Richtung, würden sich schütteln. Wozu der pathetische Protest gegen »Siegerästhetik« und »Umerziehung«? Warum die verschmockte, hochkulturelle, neoklassische Attitüde? Wozu gar (um Himmels willen) der antisemitische Unterton (wer mit den Juden ging wie mit den Linken machte Karriere ...)? Alles Unsinn, würden sie sagen – wir treiben den Deutschen jetzt erstmal die Idee aus, etwas Besonderes gelernt zu haben, den »Sonderweg«, das unnatürlich gespreizte Schuldbewußtsein, wir pragmatisieren sie zu Franzosen und Engländern. Am Rand dieses Wegs mag man dann noch das Berliner Stadtschloß wieder aufbauen und ein paar preußische Tugenden rehabilitieren, aber bitte keine Übertreibungen, sonst plärren gleich die Holländer, Habermas schreibt einen Essay und im »Spiegel« bekommen die linksliberalen Mainstreamer von gestern erneut das Übergewicht.

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