GHDI logo

Heiner Müller über den Ausverkauf der DDR (30. Juli 1990)

Seite 5 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


SPIEGEL: Herr Müller, sind Sie Kommunist?

MÜLLER: Ich habe nie von mir behauptet, daß ich Kommunist bin, weil ich es unangemessen finde, das zu sagen.

[ . . . ]

SPIEGEL: Und Sie haben trotzdem mit diesem Kommunismus leben können?

MÜLLER: Ja. Mich hat interessiert die Tragödie dieses Sozialismus. Jetzt sieht es aus wie eine Farce. Das ist die letzte Phase. Aber es war eine Tragödie.

SPIEGEL: Ist es nicht ein ästhetisch fragwürdiger Standpunkt zu sagen, ich liebe Tragödien, auch wenn sie auf dem Rücken anderer Leute ausgetragen werden?

MÜLLER: Ästhetisch fragwürdig? Wovon lebt der SPIEGEL? Das ist nicht nur ein Problem von Kunst und Politik.

[ . . . ]

SPIEGEL: Wenn der Intellektuelle, wenn der Schriftsteller von der Kommunistischen Partei seit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verachtet worden ist, warum hat er sich dann so masochistisch an deren Erben rangeschmissen?

MÜLLER: Natürlich ist ein Künstler angewiesen darauf, daß er eine Vorstellung hat von einer anderen Welt als der gegebenen oder vorhandenen. Sonst kann man keine Kunst machen, glaube ich. Und da bot sich diese letzte Religion des 20. Jahrhunderts an, die kommunistische Utopie. Es ist ja kein Zufall: Es gibt kaum große Schriftsteller oder Künstler, die sich für den Nationalsozialismus stark gemacht haben. Aber es gibt ungeheuer viele in allen Ländern der Welt, die sich für diese kommunistische Utopie stark gemacht haben.

SPIEGEL: Aber damit ist es jetzt vorbei, wo der Sozialismus zu Ende ist [ . . . ]

MÜLLER: [ . . . ] der ist ja nicht zu Ende. Zu Ende ist der Versuch, Marx zu widerlegen. Bei Marx gibt es den einfachen Satz: Der Versuch, Sozialismus oder eine sozialistische Struktur auf der Basis einer Mangelwirtschaft aufzubauen, endet in der alten Scheiße. Das ist das, was wir jetzt erleben.

SPIEGEL: Hat der Sozialismus für Sie noch eine Zukunft?

MÜLLER: Ja.

SPIEGEL: Und wo liegt die?

MÜLLER: Die liegt einfach darin, daß der Kapitalismus keine Lösung hat für die Probleme der Welt.

[ . . . ]



Quelle: „Jetzt ist da eine Einheitssoße“ [In Ost Berlin. Das Gespräch führten die Redakteure Hellmuth Karasek, Matthias Matusske und Ulrich Schwarz]. Der Spiegel, 30. Juli 1990.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite