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Heiner Müller über den Ausverkauf der DDR (30. Juli 1990)

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MÜLLER: Es klingt vielleicht ein bißchen distanziert: Diese Wende oder sogenannte Wende kam mindestens fünf Jahre zu spät. Das heißt, die Substanz dieser DDR-Gesellschaft war schon ausgehöhlt. Das war nur noch ein Zombie. Die Grenzöffnung am 9. November ’89 kam zu früh, das war ja ein Betriebsunfall. Niemand war darauf vorbereitet. Jetzt ist da eine Einheitssoße. Und das Problem ist, daß die Leute zwar in diesem revolutionären Rausch, der zunächst kein Bierrausch war, zusammengekommen sind. Jetzt geht das alles so schnell, daß sie ganz schnell wieder auseinandergetrieben werden in Interessengruppen. Mein Traum wäre gewesen, daß man sich Zeit läßt für diese Vereinigung und sie allmählich angeht. Ich bin schon ziemlich sicher, daß das Tempo dieser Vereinigung doch bestimmt ist von dem Interesse der CDU, wiedergewählt zu werden.

SPIEGEL: Aber auch von dem Interesse der Leute, die D-Mark so schnell wie möglich zu bekommen.

MÜLLER: Ja. Sie haben nicht gewußt, was sie damit bekommen. Sie haben nicht damit gerechnet, daß sie wesentlich weniger D-Mark bekommen als vergleichsweise die Leute in der Bundesrepublik.

SPIEGEL: Schlaraffenlandträume bei Revolutionen sind immer so.

MÜLLER: Und jetzt brechen diese Illusionen zusammen. Jetzt breitet sich hier eine Lethargie aus.

SPIEGEL: Meinen Sie, daß ein neues DDR-Bewußtsein entsteht, eine Nostalgie?

MÜLLER: Nein, nicht in den nächsten fünf Jahren. Was hier entstehen wird, sind Pogrome, Gewaltausbrüche, Aggressionen auf der Straße und überall. Das wird zunehmen.

SPIEGEL: Sie sagen, die Wende ist fünf Jahre zu spät gekommen. Ist das auch ein Stück Selbstkritik? Wenn jemand vor fünf Jahren die Wende hätte herbeiführen können, dann nur die Intellektuellen.

MÜLLER: Nee, so ist es überhaupt nicht.

SPIEGEL: Warum nicht?

MÜLLER: Ich hab’ schon vor fünf oder vor zehn Jahren gesagt, was ich denke – hier, und im Westen sowieso. Aber ich war damit in einer Clownsrolle, in einer Narrenrolle.

SPIEGEL: Keine Selbstkritik also, aber ein Stück Kritik an Ihren Kollegen?

MÜLLER: Vielleicht auch an mir. Aber es ist doch sinnlos, jetzt den Winkelried zu spielen. Es gab immer wieder die Diskussionen über Literatur: Ein Schriftsteller muß zuerst Kommunist sein, dann Schriftsteller. Ich würde sagen: Ich bin zuerst Schriftsteller und dann ein Held.

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