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Willy Brandt über internationale Auswirkungen der Vereinigung (5. Februar 1990)

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BRANDT: Das ist mir zu hypothetisch und erinnert mich mehr an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wäre in der Tat mancher gern über die Grenzen gegangen – wohin auch immer –, wenn er da besser versorgt worden wäre. Und wer hätte ihn deswegen verdammen dürfen?

SPIEGEL: Sie haben in Gotha für einen ehrlichen Umgang mit den europäischen Nachbarn plädiert: „Das bedeutet nicht, daß der deutsche Zug willkürlich angehalten werden darf durch diejenigen, die sich hinter Europa verstecken, um Deutschland zu verhindern.“ Vermittelt das nicht den Eindruck, als rangiere bei Ihnen Deutschland vor Europa?

BRANDT: Ich hätte nichts dagegen, wenn es so verstanden würde, daß mir Deutschland besonders wichtig ist. Sonst müßte geklärt werden, was in diesem Zusammenhang mit Europa gemeint ist. Die Ereignisse in Deutschland sind ein Unterkapitel, freilich ein sehr wichtiges, der Veränderungen in Europa: Ende kommunistischer Herrschaft, Ende staatlicher Kommandowirtschaft. Die EG hat gerade ein Handels- und Kooperationsabkommen mit der Sowjetunion unterzeichnet. Der Zusammenbruch des Post-Stalinismus berührt also auch die Europapolitik. Bei uns stimmen die beiden Hauptrichtungen der deutschen Politik, die Konservativ-Liberalen und die Sozis, überein, daß man nicht aus der EG ausschert.

Jetzt sag’ ich mal als Formel: Zwei deutsche Staaten, solange es sie noch gibt, können Mitglied einer Wirtschaftsgemeinschaft sein. Ein deutscher Staat kann aber meiner Überzeugung nach nicht Mitglied zweier Militärbündnisse sein. Das sagt auch Modrow.

SPIEGEL: Modrow verlangt ein militärisch neutrales Deutschland. Halten Sie das für möglich?

BRANDT: Nein, das ist kein hilfreicher Vorschlag. Daß die Bundesrepublik Deutschland aus der Nato austritt wie aus dem Fußballverein, ist nicht zu vermuten; ich bin auch dagegen. Daß die Nato ausgedehnt werden könnte auf den Gesamtbereich eines zusammenrückenden Deutschlands, ist ebenfalls nicht zu vermuten. Die große Mehrheit der Menschen bei uns will, solange es nicht eine völlig veränderte Weltlage gibt, im westlichen Bündnis bleiben. Was dann weiter daraus wird, das mag in der weiteren Entwicklung sich aus der Veränderung des Charakters der Bündnisse ergeben, die ja jetzt schon in Teilbereichen dabei sind, zu Vergewisserungsinstrumenten zu werden statt zu militärischen Organisationen. Wir dürfen uns nicht abmelden, sondern müssen uns an die Spitze stellen, wo es darum geht, die Konfrontation zu überwinden.

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Quelle: „Die Einheit ist gelaufen“ [Willy Brandt mit Redakteuren Dirk Koch und Klaus Wirtgen im Bonner Bundeshaus]. Der Spiegel, 5. Februar 1990.

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