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Willy Brandt über internationale Auswirkungen der Vereinigung (5. Februar 1990)

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BRANDT: Nach bundesdeutschem Recht ist die deutsche Staatsangehörigkeit immer aufrechterhalten geblieben. Übrigens: Die Schweiz nennt sich immer noch eine Konföderation, ist aber in unserem Verständnis eher ein gemeinsamer Staat, trotz aller Bedeutung der Kantone.

Ich halte für entscheidend: Der Prozeß des Wiederzusammenwachsens ist im Gange. Wenn eine Volksabstimmung stattfände, dann würden die allermeisten dafür sein.

SPIEGEL: Und dann?

BRANDT: Dann wird, welche Bonner Regierung auch immer, antworten: Freunde, so rasch geht das nicht. Sondern: Jetzt müssen wir sehen, in welchem Tempo kann die wirtschaftliche Angleichung erfolgen? Wie können die Währungen zusammengeführt, kann die Sozialgesetzgebung angeglichen werden?

SPIEGEL: Es kann doch auch passieren, daß die DDR-Bevölkerung alle Stufenpläne beiseite fegt und die Leute auf der Straße „Einheit jetzt“ verlangen.

BRANDT: Es ist gewiß ein historisches Unikum, daß der Führer der zweitstärksten kommunistischen Partei der Welt vor der Straße warnt. Das hab’ ich bisher als konservatives Argument gehört. Ein altmodischer Sozialdemokrat wie ich würde das nie so sagen, weil ich finde, man muß es ernst nehmen, wenn die Menschen ihren Willen bekunden. Doch ich gebe Ihnen recht: Die Möglichkeit besteht, daß manches überrollt wird.

SPIEGEL: Ist es eine Gefahr?

BRANDT: Es ist zwar auch schon gelegentlich aus Chaos Gutes geworden auf dieser Welt, aber eine Garantie dafür, daß aus Chaos Gutes wird, hat man nicht. Nur: Das, was Sie als möglich andeuten, wäre in höchstem Maße unerwünscht. Das kann nur aufgefangen werden, wenn den Leuten drüben vermittelt wird: Nicht erst in einigen Jahren, sondern noch in diesem und dem nächsten Jahr ändert sich etwas, und zwar deutlich. Sonst kriegen wir den großen Run oder den Kladderadatsch. Vielleicht kriegen wir ihn, aber ich bin dafür, ihn zu verhindern.

SPIEGEL: Der große Run? Meinen Sie den Übersiedlerstrom?

BRANDT: Der kann sich gewaltig verstärken. Es kann aber auch bei solchen, die nicht weggehen wollen, eben sehr viel mehr geben als Unmutsäußerungen.

SPIEGEL: Was meinen Sie mit Kladderadatsch? Meinen Sie die Folgen weiterhin ungelöster wirtschaftlicher Probleme, die dann viel schneller zur Einheit führen können, als es Ihnen lieb ist?

BRANDT: Ich habe nichts gegen schnelle Einheit. Ich sag’ nur: Sie löst keines der praktischen Probleme. Die einheitliche Währung kommt doch nicht dadurch, daß Leute sich millionenfach in Bewegung setzen statt tausendfach.

SPIEGEL: Was halten Sie von Szenarien im Kanzleramt, sich darauf einzustellen, daß es tatsächlich sehr viel schneller geht, daß schon in diesem Sommer die KSZE-Sonderkonferenz eine Lösung findet, schon in diesem Jahr eine verfassunggebende Versammlung für ganz Deutschland geboren wird?

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