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Helmut Kohls Empfang in Dresden (19. Dezember 1989)

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Ich hatte den Eindruck, dass die vor der Ruine der Frauenkirche Versammelten schon auf ein vereintes Deutschland blickten. Diese Möglichkeit begeisterte sie und weniger die Ergebnisse meiner Verhandlungen. So brandete zwar großer Beifall auf, als ich von den freien Wahlen sprach, die alsbald in der DDR abgehalten werden sollten, aber die Begeisterung, als ich den Menschen die sich dadurch eröffnenden Perspektiven aufzeigte, war geradezu unbeschreiblich:

»Sie werden eine frei gewählte Regierung haben. Dann ist der Zeitpunkt gekommen zu dem, was ich konföderative Strukturen genannt habe – das heißt gemeinsame Regierungsausschüsse, damit wir mit möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können. Und auch das lassen Sie mich hier auf diesem traditionsreichen Platz sagen: Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation. Und, liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass die Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten, wenn wir es mit Vernunft und mit Augenmaß tun und mit Sinn für das Mögliche.«

Um die Begeisterung auf dem Platz nicht überborden zu lassen, sprach ich wie schon am 10. November in Berlin nun überaus nüchtern von dem schwierigen, langwierigen Weg in diese gemeinsame Zukunft:

»Wir, die Deutschen, leben nicht allein in Europa und in der Welt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass alles, was sich hier verändert, Auswirkungen auf alle unsere Nachbarn haben muss, auf die Nachbarn im Osten und auf die Nachbarn im Westen. Es hat keinen Sinn, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass viele unserer Nachbarn diesen Weg mit Sorge und manche auch mit Ängsten betrachten. Aus Ängsten kann nichts Gutes erwachsen.

Und doch müssen wir als Deutsche unseren Nachbarn sagen: Angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts haben wir Verständnis für mancherlei dieser Ängste. Wir werden sie ernst nehmen. Für uns heißt das, wir wollen unsere Interessen als Deutsche vertreten. Wir sagen Ja zum Selbstbestimmungsrecht, das allen Völkern dieser Erde gehört – auch den Deutschen. Aber, liebe Freunde, dieses Selbstbestimmungsrecht macht für die Deutschen nur einen Sinn, wenn wir auch die Sicherheitsbedürfnisse der anderen dabei nicht aus den Augen lassen. Wir wollen in eine Welt hinein, die mehr Frieden und mehr Freiheit hat, die mehr Miteinander und nicht mehr Gegeneinander sieht. Das Haus Deutschland, unser Haus, muss unter einem europäischen Dach gebaut werden. Das muss das Ziel unserer Politik sein. [ . . . ]

Aber, liebe Freunde, wahrer Friede ist ohne Freiheit nicht möglich. Deswegen kämpfen Sie, demonstrieren Sie für die Freiheit in der DDR, und deswegen unterstützen wir Sie, und deswegen gehört Ihnen unsere Solidarität [ . . . ]. Jetzt kommt es darauf an, dass wir diesen Weg in der Zeit, die vor uns liegt, friedlich, mit Geduld, mit Augenmaß und gemeinsam mit unseren Nachbarn weitergehen. Für dieses Ziel lassen Sie uns gemeinsam arbeiten, lassen Sie uns gegenseitig in solidarischer Gesinnung helfen. Ich grüße hier von Dresden aus alle unsere Landsleute in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland.«

Zum Abschluss rief ich der Menge zu: »Gott segne unser deutsches Vaterland!«

Ich war sehr ergriffen und hatte deshalb alle Mühe, meine Rede zu beenden. Was würde jetzt geschehen? Doch die Menschen blieben besonnen. Allerdings machte keiner Anstalten, den Platz zu verlassen. Da ereignete sich etwas, das wie das Signal zum Heimgehen wirkte. Eine ältere Frau stieg zu mir aufs Podium, umarmte mich, fing an zu weinen und sagte mit leiser Stimme: »Wir alle danken Ihnen!«

Die Mikrofone waren noch eingeschaltet, und jeder konnte es hören. Nun strömten die Menschen auseinander. Erschöpft und glücklich eilten wir durch das Spalier von Menschen zu den Autos, die uns auf das gegenüberliegende Elbufer zurückbrachten.

[ . . . ]

Weit nach Mitternacht gingen wir zu Fuß zum Hotel Bellevue, wo ich unsere kleine Delegation noch zu einem Umtrunk auf mein Zimmer einlud. Gemeinsam zogen wir ein erstes Resümee der zurückliegenden Stunden, und ich sagte noch einmal: »Ich glaube, wir schaffen die Einheit. Das läuft. Ich glaube, das ist nicht mehr aufzuhalten, die Menschen wollen das. Das Regime ist definitiv am Ende.«



Quelle: Helmut Kohl, Erinnerungen 1982-1990. München, 2005, S. 1020-28. © 2004/2005 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

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