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Michail Gorbatschows Bedenken angesichts der Wiedervereinigung (5. Dezember 1989)

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Die Realität besteht darin, dass beide deutsche Staaten souverän und selbständig sind. So hat es die Geschichte entschieden. Um Realisten zu bleiben, müssen wir davon ausgehen, dass die Geschichte über das Schicksal und die Prozesse, die insgesamt auf dem Kontinent vor sich gehen, entscheidet und dabei auch den Platz und die Rolle dieser beiden Staaten bestimmt. Es vollzieht sich ein gesamteuropäischer Prozess, wir wollen ein neues Europa gestalten, ein gesamteuropäisches Haus bauen. Dafür braucht man Vertrauen. In diesem Rahmen sollen sich die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten entwickeln. Sie werden offenbar noch enger. Aber all diese Prozesse sollen normal verlaufen. Jede künstliche Forcierung würde nur die große bedeutende Umwälzung, die in der Entwicklung der europäischen Staaten vonstatten geht, verkomplizieren oder belasten, also in einem zentralen Punkt der Weltpolitik. Ich denke, eine künstliche Forcierung wäre nicht im Interesse der Völker der beiden deutschen Staaten. Gerade im Streben nach Stabilität, auf der Grundlage von Ausgewogenheit und gegenseitiger Achtung, gerade in diesem Kontext sollten beide deutschen Staaten ihre Beziehungen anpassen. [ . . . ]

Was allerdings in Wirklichkeit vor sich geht, zeugt vom Gegenteil. Gestern erklärte Kanzler Kohl, ohne dabei besonders geschickt vorzugehen, dass Präsident Bush die Idee einer Konföderation unterstützt. Was soll das heißen? Was bedeutet Konföderation? Konföderation setzt doch eine einheitliche Verteidigung, eine einheitliche Außenpolitik voraus. Wo befindet sich dann die BRD – in der NATO, im Warschauer Vertrag? Oder wird sie neutral? Aber was stellt die NATO ohne die BRD dar? Überhaupt, wie wird das weitergehen? Haben Sie das alles bedacht? Wo bleiben dann die zwischen uns existierenden Vereinbarungen? Ist das etwa Politik? [ . . . ]

Heute geht man in diesem Stil mit der DDR um, morgen womöglich mit Polen, der Tschechoslowakei und dann mit Österreich. [ . . . ]

Mit aller Verantwortung erkläre ich Ihnen, dass Sie nicht den besten Politikstil vorführen, da Sie sich nicht von Herrn Kohl distanzieren. Auf jeden Fall kann man ihn nicht verantwortungsvoll und vorausschaubar nennen.

Genscher: Zur Erklärung des Bundeskanzlers im Bundestag ist zu sagen, dass sie die Langfristigkeit der Politik der BRD demonstriert. Sie zeigt, dass sie ein Grundbestandteil des gesamteuropäischen Integrationsprozesses ist. Indem er sich an die DDR gewandt hat, wollte der Bundeskanzler in erster Linie unterstreichen, dass wir in der gegenwärtigen Etappe bereit sind zur Hilfe und Zusammenarbeit, aber auch die Möglichkeiten für eine Annäherung in der Zukunft demonstrieren. Das von ihm Gesagte ist kein Diktat oder Ultimatum, sondern nur ein Vorschlag. Die DDR entscheidet auf freier und unabhängiger Grundlage, wie sie auf diesen Vorschlag reagieren soll. Gerade davon gehen wir aus. Die DDR versteht natürlich auch ihre Verantwortung für die europäische Entwicklung. Am Vorabend meines Abfluges habe ich mich mit Kanzler Kohl in Brüssel unterhalten. Seine Zehn-Punkte-Erklärung ist kein Kalender unaufschiebbarer Maßnahmen, sondern er bestimmt die Perspektiven für einen langen Zeitraum. Die DDR bestimmt selbst, antwortet selbst auf seine Vorschläge mit ja oder nein. Wir sind an der inneren Stabilität der DDR interessiert. Mit seiner Erklärung, so scheint mir, hat der Bundeskanzler einen Beitrag zur Festigung dieser Stabilität geleistet. Hier gibt es kein Diktat und keine ultimativen Forderungen. Uns ist bekannt, dass weder Polen noch Ungarn einen solchen Eindruck haben. Diese zehn Punkte, unsere Politik, unterstützen alle im Bundestag vertretenen Parteien, inklusive die SPD.

Gorbatschow: Die Deutschen sollten sich daran erinnern, wohin in der Vergangenheit schon einmal eine Politik ohne Sinn und Verstand geführt hat.

Genscher: Wir kennen unsere historischen Fehler und haben nicht die Absicht, sie zu wiederholen. Das, was heute in der BRD und in der DDR vor sich geht, verdient keine solch harte Bewertung. Die Menschen in der DDR fordern ihre Rechte ohne irgendeine Aggressivität, ganz friedfertig. Sie werden wissen, dass die DDR meine Heimat ist, und die Forderungen ihrer Bevölkerung nehme ich mit Befriedigung und Sympathie auf. Und die Bevölkerung der BRD schaut mit Sympathie und Anteilnahme auf die Ereignisse in der DDR. Alle verantwortlichen Politiker bei uns sagen, dass die Menschen in der DDR selbst darüber entscheiden, was sie brauchen.



Quelle: Sowjetisches Protokoll eines Gespräches zwischen Michail Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher, zitiert in Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands: Ein weltpolitisches Machtspiel. Berlin, 2002, S.128-33.

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