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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Das Studium der Judenfrage machte in mir natürlich den Wunsch rege, endlich einige Juden selbst kennen zu lernen. Von entscheidender Bedeutung wurde für mich die Bekanntschaft mit Charles L. Hallgarten in Frankfurt a.M. Hallgarten hatte als Bankier in New York ein sehr großes Vermögen erworben und war amerikanischer Staatsbürger geworden. Noch in den besten Mannesjahren kehrte er nach seiner Vaterstadt Frankfurt zurück, weil ihm das Geldverdienen nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck war. Die zweite Hälfte seines Lebens wollte er ausschließlich der Nutzbarmachung seines Vermögens für Werke der Humanität widmen.

Nach seinem Tode erzählte mir ein Bekannter, in Frankfurt sei die Steuerbehörde sehr überrascht gewesen, statt der von ihr erwarteten Erbschaftsmasse von 80 Millionen nur 8 Millionen vorzufinden. Mich hätte das gar nicht überrascht, hatte mir doch einst Hallgarten gesagt: „Jeder Vater soll für seine Kinder sorgen, so weit er das kann. Ist er reich, soll er ihnen soviel hinterlassen, daß sie auch nach ihm ein sorgenfreies Leben führen können. Aber er handelt ihnen gegenüber unrecht, wenn er ihnen einen Überfluß sichert, der sie zum Drohnendasein verführt. Unsere Gesellschaftsordnung gestattet die unbegrenzte Anhäufung von Millionen. Unsere Ethik sollte gebieten, das zuviel erworbene Geld, das schließlich aus der Allgemeinheit stammt, wieder der Allgemeinheit zuzuführen. Darum habe ich mir vorgenommen, jedem meiner Kinder eine Million zu hinterlassen. Was ich mehr habe, will ich bei Lebzeiten für die Zwecke ausgeben, die mir am menschenwürdigsten scheinen.”

So sprach er. So handelte er. Seine Hand war weit geöffnet für alle menschenfreundlichen Ziele überkonfessioneller Art. Sogar für Streiks gab er große Summen, wenn ihm die Arbeiter im Recht zu sein schienen.

Manchen seiner Verhandlungen habe ich selbst beigewohnt. Er war unendlich freigebig; aber er gab nie Geld, ohne sich vorher genau über die geschäftliche Grundlage unterrichtet zu haben. Kam jemand für einen noch so guten Zweck, aber nur mit allgemeinen Plänen und Redensarten, so wies er ihn ab. Legte ihm ein anderer einen genauen Rentabilitäts- und Kostenanschlag vor, so prüfte er ihn ins einzelne; schien ihm die Sache Hand und Fuß zu haben, so zog er sein Scheckbuch und sagte: „Ihre Berechnung scheint mir zu stimmen. Es fehlt Ihnen danach noch 30.000 Mark. Hier haben Sie sie.”

Natürlich wurde ein solcher Mann von zahllosen Vereinen und Anstalten als Vorsitzender gewünscht. Um allen solchen Wünschen ein begründetes Nein entgegenzusetzen, erwarb er absichtlich die deutsche Reichsangehörigkeit nicht wieder. Immer hatte ich gehört, die Juden drängten sich in den Vordergrund. Hallgarten drängte sich in den Hintergrund.

Zu gleicher Zeit mit Herrn Hallgarten traf ein anderer Frankfurter Jude, Herr Merton, mit riesenhaften Stiftungen für gemeinnützige Zwecke in die Erscheinung. Hatte je einer unserer Schwerindustriellen mit ihren Dutzenden von Millionen, hatte je einer unserer Magnaten mit ihren Zehntausenden Hektaren Landes von seinem Überflusse eine irgendwie erhebliche Stiftung zum Nutzen des Gemeinwohls gemacht? Wie Schnee vor der Sonne schwand mein Irrglaube von dem Idealismus als Monopol der Arier und dem Materialismus als Stigma der Semiten. Noch 1892 hatte ich auf dem Tivoli-Parteitage der Konservativen dem Redner zugejubelt, der in den Saal rief: „Lieber zehn Ahlwardts als ein Freisinniger!” Wenige Jahre später stand für mich fest: Lieber zehn Juden als ein Antisemit!



Quelle: Hellmuth von Gerlach, Von rechts nach links, herausgegeben von Emil Ludwig. Zürich, 1937; Kapitel 15, “Wie ich Antisemit wurde,” und Kapitel 16, “Beginn der Verwandlung,” S. 102-18.

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