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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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So hörte ich es täglich im „Verein Deutscher Studenten” und bei meinen Standesgenossen und in den antisemitischen Versammlungen. So las ich es vor allem in den Rechtszeitungen, – „Judenblätter” nahm ich natürlich nicht in die Hand. Dazu kam die in unsern Kreisen verbreitete Literatur.

Für mich, der ich sozusagen keinen Juden kannte, stand das Bild des Judentums umso sicherer fest: ein Volk des krassen Materialismus, nur auf Geldverdienen aus, harte Arbeit scheuend, unproduktiv, weil nur dem Handel ergeben, vorurteilslos in seinen Mitteln und darum besonders stark in der Kriminal-Statistik vertreten, destruktiv, nicht konstruktiv veranlagt, zynisch, lüstern, im ganzen so ein Volk gewordener Mephisto.

Freilich kamen mir ziemlich bald Zweifel. Zwar trug ich in meiner Jugend die Scheuklappen des Milieus, aber diese Scheuklappen waren mir doch nicht angewachsen.

Ich schwärmte für Heinrich Heine, in dessen Ironie ich Wonnebäder nahm, während mir die von meinen Gesinnungsgenossen angepriesenen deutschen Dichter entsetzlich ledern vorkamen. Ich staunte über das Lebenswerk von Karl Marx, das mir in höchstem Maße konstruktiv erschien. Ich begeisterte mich für die Reden von Lassalle, in denen mir Gipfel der deutschen Sprache erklommen schienen. Ich bewunderte den Idealismus von Eduard Bernstein, der lieber das harte Brot des Exils als den süßen Kuchen der Unterwerfung aß. Ich sah, daß Leute, die garnicht genug über die Juden zu schimpfen wußten, doch unfehlbar den Weg zur jüdischen Kapazität fanden, wenn es ihnen ums Leben ging.

Und dann hatte ich das Glück, mit klugen konservativen Männern, die nicht antisemitisch fühlten, in enge persönliche Beziehung zu treten. Adolph Wagner und der Hofprediger Frommel und der Klosterprobst Freiherr von Liliencron erzählten mir aus ihren Erfahrungen heraus von großen Juden, die sie als große Menschen und große Deutsche kennengelernt hätten.

Ich begann, mich mit der Geschichte des Judentums über den Antisemiten-Katechismus hinaus zu beschäftigen.

Warum wurden die Anwälte nur Anwälte und fast nie Richter? Doch nur, weil die paar Juden, die überhaupt in den Richterstand hineinkommen konnten, unfehlbar auf den untersten Stufen stecken blieben.

Warum waren die Juden so unkriegerisch? Weil ihnen in Preußen nicht nur die Offizierslaufbahn verschlossen war, sondern sie nicht einmal Reserveoffizier werden konnten.

Warum waren so wenig Juden Handwerker? Weil sie bis zur Judenemanzipation von den Zünften ausgeschlossen waren.

Warum waren sie nicht Ackerbauer? Weil sie bis 1812 keinen Landbesitz erwerben durften.

Warum befaßten sich so viele von ihnen mit Geldgeschäften? Weil unter der Geltung des kanonischen Rechtes nur sie Geldgeschäfte betreiben dürfen.

Alles dies hätte ich natürlich wissen können und wissen sollen, ehe ich zur Judenfrage Stellung nahm. Aber weiß es heute etwa Adolf Hitler?

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