GHDI logo

Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

Seite 8 von 10    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Als ich erst angefangen hatte, kritisch dem Antisemitismus gegenüber zu werden, entdeckte ich auf Schritt und Tritt faule Stellen in seinem Fleische.

Einer seiner lautesten Rufer war Dr. Paul Liman, erst Leitartikler der „Dresdener Nachrichten”, dann der „Leipziger Neuesten Nachrichten”. Mein damaliger Freund Wolf von Dallwitz stellte aus dem Kirchenbuch fest, daß erst Limans Vater vom Judentum zum Christentum übergetreten war. Als Liman daraufhin vorgehalten wurde, daß er eigentlich nicht gerade zum Vorkämpfer des Rassenantisemitismus qualifiziert sei, suchte er sich herauszulügen: „Sein Vater habe ihm erzählt, er sei italienischen Ursprungs und deshalb so schwarz und wollig.”

Ahlwardt war Jahre hindurch der gefeiertste Redner der Antisemiten. In Neustettin, im dunkelsten Hinterpommern, war er in den Reichstag gewählt worden, gegen einen Konservativen. Mit seinem Sekretär hatte er systematisch die Bauernhöfe besucht und jeden Bauern gefragt, wieviel Morgen Landes er habe und wieviel Vieh. Dann wandte er sich zu dem Sekretär, der ein Riesennotizbuch zückte, und diktierte ihm: „Notieren Sie! Gussow hat 30 Morgen, 5 Kühe, 4 Schweine, müßte haben: 60 Morgen, 12 Kühe, 10 Schweine.” In ganz Deutschland berühmt geworden war er durch seine Bücher „Judenflinten” und „Eid eines Juden”. Die Grundlagen dieser Bücher schienen meinem Freund Dallwitz und mir sehr unsicher, deshalb ging Dallwitz, selbst feurigster Antisemit, zu ihm, um die Beweise einzusehen. Ahlwardt wies einen Haufen Akten vor, fand sich in ihnen aber nicht zurecht. Als Dallwitz dringender wurde, brach Ahlwardt die Unterhaltung mit den Worten ab: „Wenn ich etwas nicht beweisen kann, behaupte ich es eben.”

Unter den antisemitischen Führern habe ich nur wenig wirklich anständige Leute kennen gelernt, und die, deren Charakter ohne Makel war, waren wissenschaftlich so ungebildet, daß mich jungen Menschen die Empörung packte, als ich Gelegenheit hatte, sie aus der Nähe zu beobachten. Demagogen waren sie alle, die einen wider besseres Wissen, die andern infolge mangelnden Wissens.

Vom Antisemitismus haben mich weniger die Juden als die Antisemiten abgebracht.

Als ich 1903 mit Liebermann von Sonnenberg wieder im Reichstag zusammentraf, benutzte er eine Rede, um mich, seinen verlorenen „Kronprinzen”, zu vermöbeln. Ich beschränkte mich auf eine kurze, persönliche Bemerkung mit dem Zitat:

„Die durch Irrtum zur Wahrheit reisen,
das sind die Weisen.
Die im Irrtum beharren,
das sind die Narren.”

Da ich bei den letzten Worten eine Geste zu Liebermann hin machte, ergriff der Präsident die Glocke, um mich zur Ordnung zu rufen. Er setzte sich wieder hin, weil ihm doch Bedenken kamen, ob er den alten Rückert zur Ordnung rufen dürfe.

Durch meine praktischen Erfahrungen bin ich gründlich vom Antisemitismus abgekommen. Vielleicht ist nur der ganz immun gegen ihn, der diese Kinderkrankheit selber durchgemacht hat! Der Antisemitismus meiner ersten 30 Lebensjahre war in erster Linie darin begründet: Ich kannte kaum einen einzigen Juden. Was sollte ich mich mit den Vertretern einer minderwertigen Rasse abgeben? Zumal diese Leute zwar moralisch unter pari, intellektuell aber leider über pari notierten, so daß man beim Verkehr mit ihnen leicht unter den Schlitten kommen konnte. Beruhte nicht die ganze Macht des ziffernmäßig so unbeträchtlichen Fremdvolkes auf dieser Kombination von Gerissenheit und moralischer Unbedenklichkeit?

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite