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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Mein Antisemitismus bekam gerade durch Liebermann von Sonnenberg den ersten starken Stoß. Nach irgendeinem Wahlsieg saßen wir zusammen. Ich war in einer Versammlung peinlich davon berührt gewesen, daß ich auf die Frage eines Diskussionsredners, was eigentlich das wissenschaftliche Programm der Antisemiten sei, mich nur mit faulen Redensarten über das Fehlen eines solchen Programms hatte herausreden können. Von meinen Gewissensschmerzen gab ich Liebermann Kunde.

Er aber mit seiner Unbekümmertheit rief lachend: „Lieber Freund, darüber lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen. Erst wollen wir eine politische Macht werden. Dann wollen wir uns die wissenschaftliche Grundlage für den Antisemitismus suchen.”

Ich war erschüttert. Die Wissenschaft war mir immer als das höchste erschienen. Mit heißem Bemühen hatte ich Karl Marx und Rodbertus und Adam Smith und Schopenhauer und Darwin und Dühring studiert, war von Zweifelsqualen geplagt. Nun aber sagte mir unser Führer: Erst Macht, dann Wissenschaft! Meine Augen begannen sich zu öffnen. Bald sah ich ringsum im antisemitischen Lager die grauenhafte wissenschaftliche Öde. Man eroberte einen Wahlkreis nach dem andern und wußte doch eigentlich nicht, wofür. Bei den Reichstagswahlen von 1893 hatten die Antisemiten 16 Sitze davongetragen. Aber als sie nun in Fraktionsstärke im Reichstag saßen und ich von ihnen Taten erwartete, da erlebte ich nur persönliche Zänkereien und Eifersüchteleien. Jeder von ihnen, Liebermann von Sonnenberg, Zimmermann, Dr. Böckel, Paul Förster, Ahlwardt, Köhler usw. war eigentlich eine Partei für sich. Der eine war Mittelständler, der andere Arbeiterfreund, der eine Aristokrat, der andere Demokrat. Der eine rief zum Kampf gegen Juden und Junker auf, der andere ging mit den Großagrariern durch Dick und Dünn. Bei jeder Abstimmung fiel die Fraktion auseinander. Kein einziger wesentlicher Antrag wurde eingebracht, vor allem keiner auf dem Gebiet, das die Grundlage der Agitation gebildet hatte: in der Judenfrage. Es stellte sich nämlich in der Fraktion heraus, daß man kein Antijudengesetz vorlegen konnte, weil man sich über den Begriff „Jude” zu einigen nicht imstande war. Alle stimmten darüber überein:

„Was er glaubt, ist einerlei,
In der Rasse liegt die Schweinerei.”

Auf die Konfession kam es also nicht an, nur auf die Rasse. Aber wie den Begriff Rasse gesetzgeberisch fassen? Dies Pentagramm hat schon den größten Geistern Pein gemacht. Und in der antisemitischen Fraktion saßen nur ganz kleine Geister. Weil man sich nicht darüber einigen konnte, was ein Jude sei, schimpfte man zwar weiter auf die Juden, brachte aber kein Gesetz gegen sie ein.

Ebenso groß wie meine intellektuelle Enttäuschung an den Antisemiten war meine ethische. In den Volksversammlungen wetterten die Herren gegen die „jüdische Unmoral”. Die Verführer der germanischen Jungfrauen, die Zerstörer der deutschen Familie, die Träger der orientalischen Lüsternheit wurden unter dem Jubel der Versammelten an den Pranger gestellt. War die Versammlung aus, so zog man zum deutschen Männertrunk in die antisemitische Weiberkneipe des Herrn Rieprich. Bald hatte jeder der deutschen Tugendwächter eine oder noch lieber zwei Kellnerinnen um sich oder auf sich, wozu dann, mit leichter Variante, das Westfalen-Lied angestimmt wurde:

„Glückselig, wessen Arm umspannt,
Zwei Mägdlein aus Westfalenland.”

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