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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Als orthodoxer Christ war er nämlich ein erklärter Gegner des Rassestandpunktes. Viele Jahre hindurch habe ich Stöcker für einen ehrlichen Sozialpolitiker gehalten. Das war es ja gerade, was mich innerlich mit ihm zusammenband. Aber allmählich wurde ich in diesem Punkte an ihm irre. Er war nicht dazu zu bringen, gegen das Sozialistengesetz Stellung zu nehmen, obwohl es doch schreiendste Ungerechtigkeit gegen die Arbeiter war. Er spielte mit dem Gedanken eines Ersatzes des allgemeinen Wahlrechts durch irgendein nebelhaftes Ständewahlrecht. Er weigerte sich, den Kampf gegen das Greuel der Dreiklassenwahl in Preußen aufzunehmen. Er lehnte es vor allem strikte ab, auch nur einen Schritt zugunsten der Landarbeiter zu tun. Für die Mäntelnäherinnen fand er stärkste Worte. Da konnte er ja so gut gleichzeitig die Instinkte der Zuhörer gegen die „jüdischen Konfektionäre” aufpeitschen. Aber die Landproletarier, die noch viel rechtloser und erbärmlicher dastanden, – o rühret, rühret nicht daran! Das hätten doch die Junker übel vermerken müssen!

Immer schielte er nach oben. Der Traum seines Lebens war, „das eroberte Berlin den Hohenzollern zu Füßen zu legen”. Die Massen wollte er gewinnen, aber dabei die Gunst des Hofes und der Aristokratie um keinen Preis verlieren. Um seine Stellung als Hofprediger behalten zu können, machte er Kaiser und Kirchenbehörden würdelose Konzessionen. Die Spenden der frommen Edelfrauen brauchte er für seine Stadtmission. Darum durfte er ihre Männer nicht durch Eintreten für die Landarbeiter oder gegen das Sozialistengesetz verstimmen. – Er versuchte, auf jeder Schulter je eine Last zu tragen, die für beide zusammen fast zu schwer gewesen wäre. Das brachte selbst dieser Hüne mit der eisernen Gesundheit und der ehernen Stirn nicht zuwege.

Wo es nur ein Entweder-Oder gab, da erstrebte er ein Sowohl- als auch. Daran ist er gescheitert. „An unglücklicher Liebe zu den Mächtigen des Oben zerbrach dies Volkstribunat”, so faßt sein ihm mit stärkster Zuneigung gegenüberstehender Biograph Walter Frank Stöckers Lebensschicksal zusammen.

Vielleicht gerade, weil er von unten kam, als Sohn eines Wachtmeisters in einer Kaserne aufgewachsen war, konnte er sich dem eigenartigen Reiz des Hofes nicht entziehen. Wenn ihn die jungen und alten Gräfinnen anbetend umschwärmten, wenn ihn die Prinzen zu Taufen oder Heiraten auf ihre Schlösser luden, wenn ihm der Regent von Braunschweig vertrauliche Briefe schrieb, wenn ihn gar die Kaiserin zu einem intimen Vortrag befahl, da war er ganz glücklich.

Glücklich war er natürlich auch, wenn ihn der Beifall der Volksversammlung umbrauste. Wenn er aber vor die Entscheidung gestellt wurde: Oben oder Unten? Für die Herren oder für die Knechte? – dann wich er aus.

Unvereinbares suchte er zu vereinbaren, bis ihm schließlich fast niemand mehr traute. Sein Biograph nimmt ihn gegen den Vorwurf der Doppelzüngigkeit in Schutz. Was so geschienen habe, sei nur die Folge seiner zwei Seelen gewesen. Das eine ergab jedoch das andere.

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