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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Stöcker war kein Causeur im Stil des Fürsten Bülow, aber ein Erzähler von faszinierendem Reiz, manchmal von drastischer Derbheit, immer von scheinbar grenzenloser Offenherzigkeit. Wir hatten das Gefühl, von ihm in alle möglichen Geheimnisse hinter den Kulissen eingeweiht zu werden. Nichts aber schmeichelt einem jungen Menschen mehr, als wenn er von einer Größe des öffentlichen Lebens ins Vertrauen gezogen zu werden glaubt. Als Redakteur seiner Tageszeitung „Das Volk”, als Vorsitzender der Christlich-Sozialen Partei des 6. Berliner Wahlkreises, als sein Wahlmacher in Siegen, hatte ich alle paar Tage mit Stöcker zu tun. Er hielt mich für ein brauchbares Werkzeug, wie ich oft von Freunden aus dem Lande hörte, die mir von schmeichelhaften Äußerungen Stöckers über mich berichteten. Meine Eitelkeit wurde bedenklich genährt, als ich von einer Unterhaltung mit meinem Großonkel Philipp Kühne in Wanzleben Kenntnis erhielt. Der hatte mich verspottet: „Das ist ein Weltbeglücker mit einem Vogel.” Worauf ihm Stöcker erwiderte: „Hat er einen Vogel, so ist es ein Adler.”

Mit grenzenloser Hingabe hing ich an Stöcker. Was mich noch besonders an ihn fesselte, war die Maßlosigkeit der Angriffe, die gegen ihn gerade in Fällen gerichtet wurden, wo er nach meiner Kenntnis der Dinge ganz im Recht war.

Da war die Affäre mit dem „Scheiterhaufenbrief”, der als Abgrund der Verworfenheit in der ganzen Linkspresse hingestellt worden war. Es war ein Brief, in dem Stöcker seinem Freunde von Hammerstein auseinandersetzte, wie er die „Kreuzzeitung” redigieren solle, um den jungen Kaiser von Bismarck und der 1887 inaugurierten Politik des konservativ-nationalliberalen Kartells abzubringen und für eine reine Rechtspolitik zu gewinnen. Gewiß, mit der Vorschrift der Bibel: „Deine Rede sei ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel”, war der Brief nicht in Einklang zu bringen. Aber er war doch nur die Empfehlung einer bestimmten Taktik, und ohne Taktik ist Politik überhaupt nicht möglich. Ehrenrührig war der Brief bestimmt nicht.

Vor allem jedoch empörte mich, daß Stöcker als „Meineidspastor” beschimpft wurde, weil er in einem Prozeß geschworen hatte, einen Mann nie gesehen zu haben, von dem sich herausstellte, daß er einmal in einer Versammlung Stöcker entgegengetreten war. Natürlich war der Eid objektiv falsch. Aber subjektiv daraus Stöcker einen Strick zu drehen, schien mir infam. Wer selbst in hunderten von Versammlungen gesprochen hat, weiß, wie leicht einem die Erinnerung an nebensächliche Diskussionsreden verloren gehen kann.

Was mich allmählich an Stöcker irremachte und später in offenen Gegensatz zu ihm trieb, waren ganz andere Dinge. Er war ein Demagoge, freilich ein Demagoge hohen Ranges, aber eben doch bereit, die agitatorische Wirkung über die Sache selbst zu stellen. Seine neue Partei hatte er unter dem Namen Christlichsoziale Arbeiterpartei ins Leben gerufen, um die Arbeiter der Sozialdemokratie zu entreißen. Bei den proletarischen Massen versagte seine Beredsamkeit, bei dem proletarisierten Mittelstand zündete sie. Und zwar zündeten bei diesen Handwerkern und Kleinkaufleuten besonders seine, erst nur beiläufigen kritischen Bemerkungen über das Judentum, während seine sozialen Ausführungen meist über die Köpfe hinweggingen.

Da stellte er sich um. Immer breiteren Raum nahm der Antisemitismus in seinen Reden ein, ohne daß er dabei je angeben konnte, was er eigentlich gegen die Juden getan wissen wollte.

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