GHDI logo

Bismarcks Vorstellung von einem Modus Vivendi mit Rom (19. Dezember 1882)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Heute ist in allen katholischen Ländern, Frankreich, Italien, Portugal, Belgien, selbst Spanien, die Macht der römischen Kirche rückläufig, in Deutschland, in England erhält sie ihre Lebenskraft in der Friktion mit evangelischen Regierungen und ihrer Gesetzgebung. Ich habe bei der Proklamation der Unfehlbarkeit den Eindruck gehabt, daß die darin liegende Übertreibung der Priesteransprüche diesen selbst auf die Dauer gefährlich sein und der Rückschlag in natürlicher Entwicklung auf die Übertreibung folgen werde. Ich glaube dies auch noch und würde für meine Person in den Kirchenstreit gar nicht eingetreten sein, wenn nicht die katholische Abteilung unserer Regierung unter Radziwillschem Einfluß* bis zur Polonisierung deutscher Bevölkerungen staatsfeindlich geworden wäre. Zur Aufhebung dieser Abteilung wurde mein persönliches Hervortreten notwendig, und von dem Augenblick an war die aggressive Opposition gegen mich gerichtet. Ich habe auf dem Gebiete der Maigesetze nur die erfolgten Verfassungsänderungen und diese in ausgedehnterem Maße verlangt, als meine darin ängstlichen Kollegen sie bewilligen mochten; die ganze juristische Detailgesetzgebung habe ich im Gegenteil meinen Kollegen von der juristischen Richtung zugestanden. In ihr liegt m. E. das Einzige, was der römische Korrespondent als „falsche Maßregel“ mit Recht bezeichnen darf, und ich würde in bezug auf diesen mehr juristischen als politischen Teil der Maigesetze auf dem Gebiete deutscher Zunge nachgiebiger sein können, als meine heutigen Kollegen es sind; auf dem Gebiete polnischer Zunge aber würde alles, was wir den Priestern konzedieren, zum Hebel nationaler Revolutionen benutzt werden.

Der römische Briefsteller sieht die Dinge durch ein Mikroskop, welches ihm den kleinen im Vatikan sichtbaren Teil des geschichtlichen und politischen Feldes in übertriebener Größe und Wichtigkeit erscheinen läßt, und sein Tadel des Geschehenen ist der eines Dilettanten, der praktischen Geschäften fern steht. Mir bietet er eine willkommene Gelegenheit, Ew. pp. von neuem die Überzeugung auszusprechen, daß mit diplomatischen Verhandlungen in der Kirchenfrage nichts erreicht werden wird als Konkordate oder konkordatähnliche moralische und doch bindende Ehrenpflichten, und dieses ganze Gebiet ist m. E. für Preußen unannehmbar. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Herrn v. Schlözer** von Haus aus die Hoffnung zu benehmen, daß seine Mission ein annehmbares Abkommen über Frieden oder Waffenstillstand oder dauernden modus vivendi herbeiführen könne; ich glaube, daß es mir schließlich gelungen ist, ihn darüber zu enttäuschen und ihn zu überzeugen, daß unser größter Fehler wäre, in Rom Eifer oder Bedürfnis nach Änderung unserer Lage zu zeigen. Der Staat hält den status quo länger aus als die Kirche, und der Kampf muß cunctando geführt werden. Ich sehe in der Herstellung der Gesandtschaft und in ihrem Verkehr nichts anderes als eine Erleichterung des geduldigen Fortlebens im status quo, bis sich aus der Eingewöhnung ein faktischer modus vivendi vielleicht ergibt. Dazu können Generationen konsequenter Politiker nötig sein, die ihren Erfolg nicht von diplomatischen Künsten, sondern von konsequenter Durchführung staatlicher Schulpolitik erwarten. Die Priester werden wir nie gewinnen, sie bleiben immer vereidete Offiziere der Armee eines nichtpreußischen Souveräns. Die Laienerziehung ist m. E. die einzige wirksame Waffe des Staates und könnte vielleicht noch schneidiger gehandhabt werden, als bisher geschehen. Das Objektiv unserer Operationen kann nicht in Rom und im Papste, selbst nicht bei unseren Bischöfen liegen, sondern in der katholischen Laienbevölkerung Deutschlands und ihren Meinungen über Staat, Kirche und Priester.



* Gemeint sind: Boguslaw Fürst Radziwill (1809-73), ein einflußreicher katholisch-klerikaler Politiker; dessen Sohn Ferdinand Fürst Radziwill (1834-1926), der Führer der polnischen Fraktion im Reichstag, dem er 1874-1918 angehörte; sowie Anton Fürst Radziwill (1833-1904), der Neffe des Fürsten Boguslaw; er war preuß. General und seit 1866 Flügeladjutant. 1885-88 Generaladjutant des Königs und Kaisers Wilhelm I. Alle drei Radziwills waren Mitglieder des preuß. Herrenhauses und standen bei Hof in hohem Ansehen.




Quelle: Bismarcks Bericht an den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, 19. Dezember 1882, in Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Hg. Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann, Friedrichsruher Ausg., 15 Bde. Bd. 6c, Berlin, 1924-1935, S. 266ff.

Abgedruckt in Ernst Rudolf Huber und Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2, Staat und Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutionalismus und des Kulturkampfs 1848-1890. Berlin: Duncker & Humblot, 1976, S. 832-35.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite