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Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

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Unzweifelhaft wirkte dazu die gewaltige Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel mit, die der Instrumentenbau, die Instrumentalvirtuosität und mit ihnen im Zusammenhang die Orchestrierung zeitigten. Fast aber in noch höherem Maße der vielleicht wichtigste Teil der Musik: die Gesangskunst. Indem das Streben nach Vertiefung, nach Durchgeistigung, Anlaß ward zum an und für sich bedauerlichen Rückgang der Gesangsvirtuosität, ward doch unser Gesang vor dem vollständigen Aufgehen in dieser letzteren gerettet. Nun ist es die Vokalmusik, die heutzutag die bedeutendsten Erfolge errungen hat, und das nicht nur im „musikalischen Drama“, sondern auch im lyrischen, ja im epischen Gesange. Daß hinter ihr die reine Instrumentalmusik zurücktritt, mag in der Thatsache begründet sein, daß unsere ganze Tonkunst mehr denn früher nach Charakteristik drängt, und daß diese Charakteristik des stützenden und erklärenden Wortes oft nicht entraten zu können meint. Eine Stütze mehr für diese Ansicht könnte vielleicht aus der Betrachtung unserer „Programm-Musik“ erwachsen, die freilich weder so neuartig oder so unselbständig sein dürfte, wie ihre Gegner behaupten, noch so dem eigentlichen Wesen der Instrumentalmusik entsprechend, daß sie als vollkommenes Muster der ganzen Gattung betrachtet werden könnte.

Ohne Vergleich tiefer steht die nächste Kunst der successiven Anschauung, die Mimik, ja, es kann im eigentlichen Sinne kaum von einer Entwickelung der letzteren gesprochen werden. Fehlt ihr doch die vielleicht wichtigste Bedingung einer solchen mit dem Fixierungsmittel für ihre Schöpfungen, das die beiden anderen zeitlichen Künste in Lettern- und Notenschrift besitzen. Während in diesen das eigentliche Kunstschaffen das seines Zusammenhangs mit dem Vorher und Später unbewußte Volksschaffen weit überholt hat, begegnen wir in der Mimik dem Umgekehrten: die nationalen Volkstänze nähern sich weit mehr dem Wesen der Kunst, als die vollständig unkünstlerischen Tänze des „Salons“. Mit verschwindenden Ausnahmen künstlerisch ein Nichts ist auch unser Ballet. Anderen Völkern scheint der Sinn für mimische Schönheit und Charakteristik weniger abhanden gekommen zu sein, als dem unseren, das einer dem heutigen Deutschland so neuen Kunstgattung, wie sie die englischen Aufführungen des „Mikado" uns kennen lehrten, erfreut und anerkennend, aber — und gerade in seinen Kritikern am meisten — vollständig haltungslos gegenüber stand. Nur bei der mimischen Hilfskunst der Dramatik, bei der Kunst der Schauspieler liegt die Sache anders. Zwei Strebungen gehen hier immer noch nebeneinander, deren eine die Schönheit, deren andere die Charakteristik in ihren Leistungen hervorzuheben sucht, zwei Richtungen, die nicht ganz treffend als die „idealistische“ und „realistische“ bezeichnet werden. Wie in allen übrigen Künsten erkräftigt sich mehr und mehr die letztere.

Ein Ding der Unmöglichkeit ist es, auch nur die flüchtigste Umrißskizze vom verschwommenen Zustand unserer Poesie mit wenigen Linien zu zeichnen. Vermögen wir in vergangenen Zeitabschnitten unseres Schrifttums als „Romantik“, als „junges Deutschland“, als „Klassizität“ sehr wohl bestimmte Strömungen zu unterscheiden, so gleicht unsere heutige Dichtung der Stelle eines Meeres, an welcher verschiedene Flutungen bald sich bekämpfen, aufhalten oder fortschieben, bald durcheinander wirbeln: wir können die einzelnen nicht klar erkennen. Nach sachlichen, ästhetischen, überhaupt seelischen Gemeinsamkeiten ist eine Gruppierung der Schriftsteller, die heute im vollsten Mannesalter stehen, vielfach unmöglich.

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