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„Mit brennender Sorge”: Enzyklika über die Lage der katholischen Kirche im Deutschen Reich (14. März 1937)

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Das Kreuz Christi, mag auch schon sein bloßer Name vielen eine Torheit und ein Ärgernis geworden sein (1 Cor. 1, 23), es bleibt für den Christen das geheiligte Zeichen der Erlösung, die Standarte sittlicher Größe und Kraft. In seinem Schatten leben wir. In seinem Kusse sterben wir. Auf unserem Grabe soll es stehen als Künder unseres Glaubens, als Zeuge unserer dem ewigen Licht zugewandten Hoffnung.

Demut im Geist des Evangeliums und Gebet um Gottes Gnadenhilfe sind mit Selbstachtung, Selbstvertrauen und heldischem Sinn wohl vereinbar. Die Kirche Christi, die zu allen Zeiten bis in die jüngste Gegenwart herein mehr Bekenner und freiwillige Blutzeugen zählt als irgendwelche andere Gesinnungsgemeinschaft, hat nicht nötig, von solcher Seite Belehrungen über Heldengesinnung und Heldenleistung entgegenzunehmen. In seinem seichten Gerede über christliche Demut als Selbstentwürdigung und unheldische Haltung spottet der widerliche Hochmut dieser Neuerer seiner selbst.

Gnade im uneigentlichen Sinne mag alles genannt werden, was dem Geschöpf vom Schöpfer zukommt. Gnade im eigentlichen und christlichen Sinne des Wortes umfaßt jedoch die übernatürlichen Erweise göttlicher Liebe, die Huld und das Wirken Gottes, durch das Er den Menschen zu jener innersten Lebensgemeinschaft mit Sich erhebt, die das Neue Testament Gotteskindschaft nennt. »Seht, wie große Liebe der Vater uns erwiesen hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es auch« (1 Joh. 3,1). Die Ablehnung dieser übernatürlichen Gnadenerhebung aus angeblich deutscher Wesensart heraus ist Irrtum, eine offene Kampfansage an eine Kernwahrheit des Christentums. Die Gleichsetzung der übernatürlichen Gnade mit den Gaben der Natur ist Eingriff in den durch die Religion geschaffenen und geweihten Wortschatz. Die Hirten und Hüter des Volkes Gottes werden gut daran tun, diesem Raub am Heiligtum und dieser Arbeit an der Verwirrung der Geister mit Wachsamkeit entgegenzuwirken.

Sittenlehre und sittliche Ordnung

Auf dem wahren und rein bewahrten Gottesglauben ruht die Sittlichkeit der Menschheit. Alle Versuche, die Sittenlehre und die sittliche Ordnung vom Felsenboden des Glaubens abzuheben und auf dem wehenden Flugsand menschlicher Normen aufzubauen, führen früher oder später Einzelne und Gemeinschaften in moralischen Niedergang. Der Tor, der in seinem Herzen spricht, es gibt keinen Gott, wird Wege der sittlichen Verdorbenheit wandeln (Ps. 13,1f.). Die Zahl solcher Toren, die heute sich unterfangen, Sittlichkeit und Religion zu trennen, ist Legion geworden. Sie sehen nicht oder wollen nicht sehen, daß mit der Verbannung des bekenntnismäßigen, d. h. klar und bestimmt gefaßten Christentums aus Unterricht und Erziehung, aus der Mitgestaltung des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens Wege der geistigen Verarmung und des Niedergangs beschritten werden. Keine Zwangsgewalt des Staates, keine rein irdischen, wenn auch in sich edlen und hohen Ideale, werden auf die Dauer imstande sein, die aus Gottes- und Christusglauben kommenden letzten und entscheidenden Antriebe zu ersetzen. Nimmt man dem zu höchsten Opfern, zur Hingabe des kleinen Ich an das Gemeinwohl Aufgerufenen den sittlichen Rückhalt aus dem Ewigen und Göttlichen, aus dem aufrichtenden und tröstenden Glauben an den Vergelter alles Guten und Ahnder alles Bösen – dann wird für Ungezählte das Endergebnis nicht sein die Bejahung der Pflicht, sondern die Flucht vor ihr. Die gewissenhafte Beobachtung der zehn Gebote Gottes und der Kirchengebote, welch letztere nichts anderes sind als Ausführungsbestimmungen zu den Normen des Evangeliums, ist für jeden Einzelmenschen eine unvergleichliche Schule planvoller Selbstzucht, sittlicher Ertüchtigung und Charakterformung. Eine Schule, die viel verlangt; aber nicht zuviel. Der gütige Gott, der als Gesetzgeber spricht: »Du sollst«, gibt in Seiner Gnade auch das Können und Vollbringen. Sittlichkeitsbildende Kräfte von so starker Tiefenwirkung ungenützt lassen oder ihnen den Weg in die Bezirke der Volkserziehung gar bewußt versperren, ist unverantwortliche Mitwirkung an der religiösen Unterernährung der Volksgemeinschaft. Die Auslieferung der Sittenlehre an subjektive, mit den Zeitströmungen wechselnde Menschenmeinung, statt ihrer Verankerung im heiligen Willen des ewigen Gottes, in Seinen Geboten, öffnet zersetzenden Kräften Tür und Tor. Die hiermit eingeleitete Preisgabe der ewigen Richtlinien einer objektiven Sittenlehre zur Schulung der Gewissen, zur Veredlung aller Lebensbereiche und Lebensordnungen ist eine Sünde an der Zukunft des Volkes, deren bittere Früchte die kommenden Geschlechter werden kosten müssen.

Anerkennung des Naturrechts

Im verhängnisvollen Zug der Zeit liegt es, wie die Sittenlehre, so auch die Grundlegung des Rechtslebens und der Rechtspflege vom wahren Gottesglauben und von den geoffenbarten Gottesgeboten mehr und mehr abzulösen. Wir denken hier besonders an das sogenannte Naturrecht, das vom Finger des Schöpfers selbst in die Tafeln des Menschenherzens geschrieben wurde (Röm. 2,14f.) und von der gesunden, durch Sünde und Leidenschaft nicht verblendeten Vernunft von diesen Tafeln abgelesen werden kann. An den Geboten dieses Naturrechts kann jedes positive Recht, von welchem Gesetzgeber es auch kommen mag, auf seinen sittlichen Gehalt, damit auf seine sittliche Befehlsmacht und Gewissensverpflichtung nachgeprüft werden. Menschliche Gesetze, die mit dem Naturrecht in unlösbarem Widerspruch stehen, kranken an einem Geburtsfehler, den kein Zwangsmittel, keine äußere Machtentfaltung sanieren kann. Mit diesem Maßstab muß auch der Grundsatz: »Recht ist, was dem Volke nützt«, gemessen werden. Zwar kann dem Satz ein rechter Sinn gegeben werden, wenn man unterstellt, daß sittlich Unerlaubtes nie dem wahren Wohle des Volkes zu dienen vermag. Indes hat schon das alte Heidentum erkannt, daß der Satz, um völlig richtig zu sein, eigentlich umgekehrt werden und lauten muß: »Nie ist etwas nützlich, wenn es nicht gleichzeitig sittlich gut ist. Und nicht weil nützlich, ist es sittlich gut, sondern weil sittlich gut, ist es auch nützlich« (Cicero, De officiis 3,30). Von dieser Sittenregel losgelöst, würde jener Grundsatz im zwischenstaatlichen Leben den ewigen Kriegszustand zwischen den verschiedenen Nationen bedeuten. Im innerstaatlichen Leben verkennt er, Nützlichkeits- und Rechtserwägungen miteinander verquickend, die grundlegende Tatsache, daß der Mensch als Persönlichkeit gottgegebene Rechte besitzt, die jedem auf ihre Leugnung, Aufhebung oder Brachlegung abzielenden Eingriff vonseiten der Gemeinschaft entzogen bleiben müssen. Die Mißachtung dieser Wahrheit übersieht, daß das wahre Gemeinwohl letztlich bestimmt und erkannt wird aus der Natur des Menschen mit ihrem harmonischen Ausgleich zwischen persönlichem Recht und sozialer Bindung, sowie aus dem durch die gleiche Menschennatur bestimmten Zweck der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist vom Schöpfer gewollt als Mittel zur vollen Entfaltung der individuellen und sozialen Anlagen, die der Einzelmensch, gebend und nehmend, zu seinem und aller anderen Wohl auszuwerten hat. Auch jene umfassenderen und höheren Werte, die nicht vom Einzelnen, sondern nur von der Gemeinschaft verwirklicht werden können, sind vom Schöpfer letzten Endes des Menschen halber gewollt, zu seiner natürlichen und übernatürlichen Entfaltung und Vollendung. Ein Abweichen von dieser Ordnung rüttelt an den Tragpfeilern, auf denen die Gemeinschaft ruht, und gefährdet damit Ruhe, Sicherheit, ja Bestand der Gemeinschaft selbst.

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