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Herbert Marcuse prangert den Vietnam-Krieg an (22. Mai 1966)

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Ich spreche nicht von der kommunistischen Welt als Gegenkraft gegen die kapitalistische, weil meiner Überzeugung nach diese Konstellation noch ganz im Fluß ist. Entscheidend ist hier die Tendenz zur Assimilierung zwischen der Sowjetgesellschaft und der amerikanischen Gesellschaft und zur Spaltung der kommunistischen Welt in ‚haves’ and ‚have nots’-Völker, die eine solche Assimilierung sehr erleichtern würde.

Zum Schluß eine Antwort auf die Frage, die mir von Ihnen gestellt worden ist: Gibt es eine reale Basis der Solidarität für alle diese sozial und geographisch so verschiedenen und so getrennten Gegenkräfte, gibt es eine Basis für eine konkrete Solidarität?

Meine Antwort ist: keine außer der Solidarität der Vernunft und des Sentiments. Diese instinktive und intellektuelle Solidarität ist heute vielleicht die stärkste radikale Kraft, die wir haben. Man soll eine solche Solidarität nicht verkleinern, besonders nicht die instinktive spontane Solidarität des Sentiments. Sie geht tiefer als die organisierte Solidarität, ohne die sie nicht wirksam werden kann; sie ist Teil der Gewalt des Negativen, mit der die Umwälzung beginnt.

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Man fragt immer noch, ob die Universität etwas mit Politik zu tun haben soll, ob Politik an der Universität gemacht werden soll. Gewiß, wir haben politische Wissenschaft in der Universität, aber die soll so wenig wie möglich mit Politik zu tun haben. Aber sicher hat Ethik einen legitimen Platz in der Universität, und eine der Sachen, die ich jedenfalls gelernt habe und die viele meiner Freunde, Sozialisten, Marxisten, gelernt haben, ist, daß Moral und Ethik nicht bloßer Überbau und nicht bloße Ideologie sind. Es gibt eben in der Geschichte so etwas wie Schuld, und es gibt keine Notwendigkeit, weder strategisch, noch technisch, noch national, die rechtfertigen könnte, was in Vietnam geschieht: das Abschlachten der Zivilbevölkerung, von Frauen und Kindern, die systematische Vernichtung von Nahrungsmitteln, Massenbombardierungen eines der ärmsten und wehrlosesten Länder der Welt – das ist Schuld, und dagegen müssen wir protestieren, selbst wenn wir glauben, daß es hoffnungslos ist, einfach um als Menschen überleben zu können und vielleicht für andere doch noch ein menschenwürdiges Dasein möglich zu machen, vielleicht auch nur, weil dadurch der Schrecken und das Grauen abgekürzt werden könnten, und das ist heute schon unendlich viel.



Quelle: Herbert Marcuse, „Vietnam – Analyse eines Exempels“, Neue Kritik, 7. Jg., Nr. 36/37, Juli/August 1966, S. 30-40; abgedruckt in Wolfgang Kraushaar, Hg., Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995. Hamburg, 1998, Bd. 2, S. 205-09.

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