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Heinrich Böll über die psychologische Auswirkung des Wirtschaftswunders (1960)

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Gespannt wartete ich auf den Augenblick, wo unser Taxi in die Straße einbiegen würde, die man auf dem Weg zum Hauptbahnhof unweigerlich passieren muß. Da strömen die Gebäude Weihe und Würde aus, bester Stein ist da in bestem Reichsparteitagstil verarbeitet, unter der Devise: Solider geht's nimmer. Herrschen und Bauen sind eins, und wer hierzulande baut, das wird in dieser Straße deutlich. Wenn man im Taxi durchfährt, wirft der Taxifahrer vorsichtshalber noch einen Blick auf Schuhe, Kleider, Gesicht des Fahrgasts, um festzustellen, ob der Kommentar angebracht ist, den der Volksmund sich angesichts dieser Gebäude erlaubt. „Alles von unserem Geld erbaut.“

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Als wir am Bahnhof ausstiegen, war der Taxifahrer erschrocken über das hohe Trinkgeld, das mein Besucher ihm gab: zwei Mark auf fünf! und das von einem Kunden, den er seines Kommentars für würdig gehalten hatte. Hatte er sich etwa doch in uns getäuscht und hätte sich besser den Kommentar verkniffen? Waren wir Kommunisten oder hielten wir ihn für einen? Vorsicht! Unglücklicherweise setzte sich sein Schrecken in Liebedienerei um. Wie sorgfältig er die Tasche des Besuchers aus dem Gepäckraum nahm! Man weiß in diesem Land Großzügigkeit so wenig zu schätzen wie Sparsamkeit. Geld ist mit viel Sentimentalität befrachtet. Kein Wunder in einem Land, wo Armut weder mystische Heimat noch Station zum Klassenkampf mehr ist. In den Köpfen auch der sogenannten Intellektuellen sind die Begriffe: arm, brav, Arbeiter, immer noch identisch; die Folgerung: da die Arbeiter nicht mehr arm sind, gibt es keine Armut mehr – und die Arbeiter sind nicht mehr brav. Die, die man sozial nennt, sind dann die Ausnahmen; daß Asozialität unter den Satrapen eine Entsprechung haben könnte, auf den Gedanken ist man noch nicht gekommen; wer sich mit einem Hundertmarkschein eine Zigarette anzündet, kann eher auf Bewunderung als auf Verachtung oder Haß rechnen. [ . . . ]

Die einzige Drohung, die einem Deutschen heute Angst einflößt, ist die des sinkenden Umsatzes. Sobald diese Drohung sich zu verwirklichen scheint, tritt Panik ein, stehen alle Zeichen auf Hochalarm. Es gibt sehr viele sehr kluge, sehr gescheite, schreibgewandte junge Leute, die auf eine beunruhigende Weise informiert, die gebildet sind, Zusammenhänge erkennen, über den dritten punischen Krieg so gut Bescheid wissen wie über Faulkner; ich frage mich nur, wo ihr Widerstand anfängt oder anfangen würde. Sie haben weder Angst vor Adenauer noch vor Ollenhauer; wenn man ihnen winzige Konzessionen nachweist, zitieren sie eine Instanz, die viel gefährlicher ist, als der eine ist und der andere je werden könnte: Lieschen Müller, diese mythische Gestalt, die mir eine Erfindung ihres schlechten Gewissens zu sein scheint. Lieschen Müller und der Umsatz hängen eng zusammen. Wer den Umsatz gefährdet – hat eine Chance, die Deutschen zu provozieren. Der Tod ihrer Nachbarn und Freunde hat sie nicht gelehrt, das Leben zu würdigen; Schmerz ist nicht Weisheit, Trauer nicht Kraft geworden, sie sind auf eine absurde Weise arm, da sie angesichts der ständigen Drohung nicht einmal fähig sind, ihren relativen Wohlstand wirklich zu genießen. Der Hunger der Jahre „vor der Währung“ hat sie nicht einmal weise genug gemacht, der Segnungen des Augenblicks sich wirklich zu erfreuen; nicht einmal aus dem Elend ist ihnen eine Würze erwachsen; wessen Erinnerung sich auch nur über zehn Jahre erstreckt, der wird für krank gehalten oder gehört in Tiefschlaf versetzt, auf daß er gestärkt für die Gegenwart wieder erwache. Eine Handvoll Kartoffeln, ein Kuß im Hausflur, eine politische Bemerkung unter Nicht-Parteimitgliedern – das war der Preis für ein Menschenleben. Vielleicht liegt das Geheimnis dieses Auslöschens der Erinnerung in der Natur der unbekannten Formel, die unser Leben in die Zeit vor und nach der Währungsreform zerfallen läßt.

Das alles hatte ich dem Besucher sagen wollen, aber die Worte im Gespräch nicht gefunden. Ein rascher Händedruck, ein „Adieu“, der Zug fuhr ab. [ . . . ]

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