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Bildung und sozialer Aufstieg (1982)

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Die Wogen der Debatte, wer denn nun zur »führenden Klasse« gehöre, besänftigten sich nicht. Sie schlugen hinauf bis in die Führungsspitze. Die einzigen, die kein Interesse daran zeigten, waren die Arbeiter und Bauern sowie die selbständigen Handwerker. Unruhe störte empfindlich das Überbau-Gefüge, führte zu sogenannten »nutzlosen Diskussionen«. Das lenkte ab von der postulierten Hauptaufgabe: »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen«, die von den Beunruhigten agitatorisch und praktisch zu überwachen war. Aus der formulierten Hauptaufgabe entwickelte man nach einem knappen Jahr das Gentleman's Agreement: Wir sind allzumal Werktätige und mangeln des Ruhmes nicht, den wir vor der Partei haben sollen. Nun ist jeder, der Lohn oder Gehalt bekommt, ein Werktätiger und darf sich zur Arbeiterklasse zählen. Ausgenommen sind die Künstler, die jedoch, legen sie Wert darauf, selbstverständlich auch werktätig sind. Infolgedessen konnte Ende 1980 im DDR-Fernsehen eine Kommunalpolitikerin mit Fug und Recht verkünden, daß in die Wohnungen eines Berliner Neubaublocks ausschließlich Arbeiterfamilien einziehen. Eine Merkwürdigkeit ist aus der Abstammungs-Debatte zurückgeblieben. Die Kandidaten zu jedweder Wahl sowie die mit Orden und Ehrenzeichen geehrten Personen werden in den Zeitungen grundsätzlich mit zwei Berufen vorgestellt. Erich Honecker zum Beispiel: Dachdecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Der glückliche Zufall, daß der erste Mann des Staates einst der Bauarbeiter-Zunft angehörte, verleitet jedoch keinen Bauarbeiter zu utopischen Wünschen.

Bildung
Wissen zählt in der DDR. Wissen bedeutet zwar nicht Macht, Kenntnisse und Fertigkeiten sind jedoch Werte. Die Erfahrung zweier Weltkriege wirkt nach: »Was man im Kopf hat, kann nicht enteignet werden.« Die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung seit Bebel ist präsent: Bildungsprogramme stehen seit dem Leipziger Vereinstag des »Verbandes Deutscher Arbeitervereine« 1864 ständig auf der Tagesordnung. Lenins Losung »Lernen, lernen und nochmal lernen« ist zur volkstümlichen Redewendung aufgestiegen. Die Maxime des Mittelstandes aus den Gründerjahren der Industriegesellschaft blieb lebendig: Lernen, um es besser zu haben, um aufzusteigen. Qualifizierung und Weiterbildung gehören zum DDR-Alltag. Man macht auf der Abendoberschule den 10. Klasse-Abschluß oder das Abitur nach, im Abend- oder Sonderstudium wird der Facharbeiter- oder Fachschulabschluß erworben, im Fernstudium das Hochschuldiplom. Wer aus dem »einheitlichen sozialistischen Bildungssystem« aussteigt, findet viele Möglichkeiten des erneuten Einstiegs. Daneben gibt es Teilstudien, Speziallehrgänge und Volkshochschulkurse. Sie sind vorwiegend dazu bestimmt, den Werktätigen für den Arbeitsplatz, den er bereits einnimmt, besser auszurüsten. Großbetriebe leisten sich eigene Betriebsakademien. Im Jahr 1977 bildeten sich 1 455 300 Beschäftigte der sozialistischen Wirtschaft weiter, 573 200 davon waren Frauen. Jeder Betrieb ist durch den Betriebskollektivvertrag (jährliche Vereinbarung zwischen Leitung und Gewerkschaft) gesetzlich verpflichtet, einen Frauenförderungsplan, einen Jugendförderungsplan und einen Plan der Qualifizierung aufzustellen. Die Pläne »mit Leben zu erfüllen«, wie es in der Funktionärssprache heißt, ist schwierig, denn verständlicherweise sind weniger Frauen als Männer bereit und in der Lage, sich durch zusätzliches Lernen zu belasten. Die gesetzlichen Voraussetzungen, die praktischen Möglichkeiten sowie die sozialen Vergünstigungen (zusätzliche Freizeit, finanzielle Unterstützung) sind beispielhaft. Für Frauen sind sie günstiger als für Männer, für Mütter mit Kindern noch attraktiver als für Mädchen. So trifft man nicht selten Leute mit zwei abgeschlossenen Berufsausbildungen, mit staatlichen Befähigungsnachweisen für mehrere Fertigkeiten, mit doppeltem Hochschuldiplom.

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