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Erinnerungen an das Sedanfest in den 1870er Jahren (Rückblick, 1930)

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Nach der leiblichen Erfrischung rief Kantor Scheibel seinen Sängerinnenchor um sich, die andern Gesangslehrer taten desgleichen, und nun wurde ein Gesangswettstreit in patriotischen Liedern ausgefochten, dem sich turnerische Uebungen anschlossen. Herr Räthel nahm erst seine Knabenabteilungen vor, die Freiübungen ausführten, und dann die Oberklassen der gehobenen Mädchenschule, die es sogar zu Reigenaufführungen brachten. Dann spielten die verschiedenen schulen, jede auf ihrem gesonderten Platz, und auch die verschiedenen Klassen unter Leitung der Lehrer und Teilnahme von Eltern, Verwandten, Freunden und noch nicht schulpflichtigen Geschwistern allerlei Spiele, unersättlich und nie ermüdet. Die Kinder von damals waren noch nicht so blasiert wie die heutigen, die nach meiner Erfahrung sehr bald bei gemeinsamem Spiel ermüden – es sei denn, daß sie ihre eigenen kleinen Persönlichkeiten irgendwie dabei herausstellen und Ehre für sich einheimsen können. – Dann kamen auch „Gewinne“ zur Verteilung. Wir Kinder hatten vorher gesammelt, der Klassenfond und wohl auch der Beutel des Klassenlehrers Fehlendes dazu gespendet, und mit Topfschlagen, Wettlaufen, Ball- und Reifenspielen, bei den Volksschulen auch mit Stangenklettern und Sackhüpfen, wurden die Preise erkämpft. Daß ich auch ganz zuletzt noch einen „Gewinn“ erhielt, irgendeine Mappe mit Briefbogen oder ein buntes Lesezeichen, das verdankte ich mehr dem Wohlwollen der Lehrerin als eignem Geschick. Denn in körperlichen Uebungen war ich sehr ungeschickt und viel zu schüchtern, als daß ich mir im Wettbewerb je einen Preis auf ehrliche Art hätte erringen können. – Wenn die Dunkelheit einzubrechen begann, hieß es, sich sammeln. Die Ballons, d. h. die Kerzen darin, wurden angezündet; alle traten wieder in Reih' und Glied, und nach einem gemeinsamen Lied wurde der Heimmarsch angetreten. Die Knabenschule reihte sich unterwegs ein, und so ging es mit Musik und Gesang, heiser und müde, aber selig von dem Genossenen, langsam der Stadt zu. In den Fenstern manches Hauses brannten festliche Kerzen, und festlich leuchteten die Papierlampen in unserem Zuge, soweit sie noch nicht den Flammen zum Opfer gefallen waren. Auf dem Markt wurde Halt gemacht, eine Rede des Bürgermeisters scholl über die Köpfe der Versammelten, die Oberklasse der Knaben führte noch einen Lampionreigen aus, die Musik schmetterte, das Kaiserhoch erbrauste, und der Zug löste sich auf. Die Schüler zogen vor das Schulhaus, wo sie entlassen wurden und mit Jauchzen die Botschaft beantworteten, daß die Schule morgen erst um 9 Uhr anfinge. Die Vereine feierten wohl noch in irgendeinem Lokal weiter, und festlich endete der festliche Tag.



Quelle: Florentine Gebhardt, Blätter aus dem Lebensbilderbuch. Berlin, 1930, S. 51-54.

Auch abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellchaft, 1997, S. 61-64.

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