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1.C. Emanzipation der Juden
Druckfassung

1. Staat und Regierung   |   1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?   |   1.B. Autoritäre Herrschaft oder Verfassungsstaat?   |   1.C. Emanzipation der Juden   |   2. Parteien und Organisationen   |   3. Militär und Krieg   |   4. Wirtschaft und Arbeit   |   5. Natur und Umwelt   |   6. Geschlecht, Familie, und Generationen   |   7. Regionen, Städte, Landschaften   |   8. Religion   |   9. Literatur, Kunst, Musik   |   10. Die Kultur der Eliten und des Volkes   |   11. Wissenschaft und Bildung

Da die Juden mit einem Bevölkerungsanteil von einem bis anderthalb Prozent eine sehr kleine Minderheit in Deutschland ausmachten und diese auch in regionaler Verteilung selten mehr als fünf Prozent betrug, erscheint es auf den ersten Blick überraschend, dass die Frage nach ihren staatsbürgerlichen Rechten in der Zeit von 1815 bis 1866 ein wichtiges Problem für Regierung und Politik darstellte. Ebenso erstaunlich mag einem die Tatsache vorkommen, dass dieses Thema in der vorliegenden Quellensammlung gleichberechtigt neben den Themen nationale Einheit und Verfassungsstaat behandelt wird. Die Emanzipation der Juden war jedoch eine Frage von entscheidender politischer Bedeutung, da in den Debatten, die sich an ihr entzündeten, grundsätzlich verschiedene Meinungen zum Begriff der Staatsbürgerschaft und dem Verhältnis zwischen Staatsbürgern und Regierung zu Tage traten.

Eine hilfreiche Einführung in die Debatte über die Gleichberechtigung der Juden ist das 1822 verfasste Memorandum des Staatsministeriums des Großherzogtums Nassau, eines kleinen Bundesstaates im westlichen Teil Deutschlands, zur Frage der Niederlassungs- und Heiratsrechte für die jüdische Bevölkerung des Großherzogtums. Die Verfasser des Memorandums weisen darauf hin, dass die Frage selbst eine Folge der tiefgreifenden politischen Veränderungen der drei vorangegangenen Jahrzehnte sei. Unter den früheren Herrschaftsverhältnissen in Deutschland, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor 1789, waren Gesellschaft und Regierung korporativ organisiert, d.h. verschiedene soziale und religiöse Gruppen hatten unterschiedliche Pflichten und Privilegien, und keine Gruppe hatte dieselben Rechte wie eine andere. Unter diesen Umständen war die Vorstellung von einer religiösen Minderheit mit ihren eigenen Problemen und ihrer eigenen Lebensweise in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Infolge der Erschütterungen der Französischen Revolution wurde dieses Staats- und Gesellschaftsmodell jedoch durch das einer allgemeinen Staatsbürgerschaft ersetzt, welches den Juden eine Sonderrolle zuschrieb. Die Staatsbeamten, die dieses Memorandum verfassten, merkten zwar an, dass Anstrengungen unternommen worden seien, um die soziale und wirtschaftliche Sonderstellung der Juden zu verringern und ihre Erwerbsstruktur der der anderen Einwohner des Großherzogtums anzugleichen. Allerdings äußerten sie sich skeptisch, nicht nur, was den Erfolg dieser Bemühungen betraf, sondern auch hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Berechtigung.

Das zweite Dokument vom 25. Januar 1820, also etwa aus der gleichen Zeit, war der Bericht der Preußischen Bezirksregierung in Koblenz, eines Gebiets direkt nordwestlich des Großherzogtums Nassau. Er befasste sich mit der Stellung der Juden in diesem Bezirk und der Frage, ob das preußische Regierungsedikt von 1812, das den Juden mehr Bürgerrechte gewährte, auch für die nach 1815 an Preußen gefallenen Gebiete gelten solle. Der Bericht verglich die Rechtslage in den Gebieten westlich des Rheins, in denen Gesetze aus der Zeit der Französischen Revolution in Kraft waren, mit denen östlich des Rheins, in denen die alten Gesetze weiterhin Bestand hatten. Der Verfasser des Berichts, der sich dagegen aussprach, den Juden mehr Bürgerrechte zu gewähren, lieferte eine hasserfüllte und voreingenommene Beschreibung der jüdischen Bevölkerung der Region als Beleg für sein Argument. Der äußerst feindselige Bericht über die Juden sollte vor Augen führen, dass diese die Kriterien eines Staatsbürgers nicht erfüllten, wobei er implizierte, dass zu den Bedingungen für die Staatsbürgerschaft das Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession, das Befolgen bestimmter Sitten und das Ausüben spezifischer Berufe gehörten.

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