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4. Kultur
Druckfassung

Überblick   |   1. Die Lage im Jahre 1945   |   2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten   |   3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft   |   4. Kultur   |   Empfehlungen zur weiterführenden deutschen Literatur   |   Empfehlungen zur weiterführenden englischen Literatur

In der Debatte über die moralischen Grundlagen der beiden neuen deutschen Staaten beschäftigten sich die Zeitgenossen eingehend mit Religion und Kultur. Obwohl viele Kirchenoberhäupter dem NS-Regime Beihilfe geleistet hatten, gelang es der katholischen und protestantischen Kirche in Westdeutschland, sich nach dem Untergang des Dritten Reichs als moralische Instanzen zu positionieren. Sie versuchten, sexuellen Konservatismus als Grundpfeiler des „Abendlandes“ zu stärken und schimpften gegen kulturelle Produkte, die diesem Ziel zuwiderliefen (z.B. bestimmte Filme, Musik oder Tänze). So saßen Kirchenvertreter in der westdeutschen Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und behielten ebenfalls ein Maß an Einfluss auf die Schulbildung in vielen Bundesländern. In der ostdeutschen Führungsriege herrschte Misstrauen gegenüber den Kirchen. Als Ausdruck des Wettstreits mit den Kirchen um die Loyalität der Jugendlichen setzte die DDR-Führung die Jugendweihe (ein staatliches Ritual, bei dem die Jugendlichen dem Sozialismus die Treue schwören) als säkulare Alternative zur religiösen Konfirmation durch.

Die Unterschiede zwischen Schulen und Universitäten in Ost und West, wie auch die anderer Institutionen, verschärften sich während des Kalten Krieges besonders deutlich. Eines der Hauptziele des Staatssozialismus bestand darin, das ostdeutsche Bildungssystem für die Arbeiter- und Bauernkinder zu öffnen. In Westdeutschland reproduzierte das Bildungssystem die Unterschiede zwischen bürgerlichen und Arbeiterfamilien (zumindest bis in die 1960er Jahre) und wirkte insofern kontraproduktiv zu anderen westdeutschen Institutionen, die zu einer Umdeutung der Klassenunterschiede in der Nachkriegszeit beitrugen.

In beiden deutschen Staaten beschäftigten sich die Intellektuellen mit dem Erbe des Nationalsozialismus und der Frage deutscher Verantwortung. Seit den 1950er Jahre betonten zahlreiche westdeutsche Historiker, Schriftsteller und Kulturschaffende im Bereich der Populärkultur das Bild der Deutschen als Opfer von Krieg, Vertreibung, Deportation und Gefangenschaft. Insbesondere im Westen schien der Ruf nach einem vereinten Europa ein gesundes Gegenmittel zu den Auswüchsen des deutschen Nationalismus. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ließ unter dem Druck des Kalten Krieges zwar nach, doch die Deutschen diskutierten dennoch die Art und das Ausmaß der deutschen Verantwortung für die NS-Verbrechen.

Ostdeutsche Intellektuelle und Künstler, von denen viele auf den Aufbau einer demokratischeren Kultur hofften, erfuhren mehrere Wellen starker Unterdrückung, die oft durch Entwicklungen in der Sowjetunion ausgelöst wurden. So veranlasste beispielsweise in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren die scharf geführte Formalismusdebatte in Literatur, Musik und bildenden Künsten zahlreiche Künstler und Kulturschaffende, zu einer Zeit, als die Berliner Sektorengrenze noch durchlässig war, in den Westen zu gehen. In ihrem Bestreben, die Entwicklung eines „neuen Menschen“ darzustellen – und zu fördern – unterstützten die ostdeutschen Behörden ebenso wie ihr sowjetisches Gegenüber den Sozialistischen Realismus, einen erhabenen heroischen Stil, der sich aus dem Realismus und Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts entwickelte. Beide deutschen Staaten erhoben Anspruch auf das klassische Erbe Goethes, Schillers und Beethovens. In den 1950er Jahren hatte Westdeutschland außerdem zahlreiche moderne Künstler der Wilhelminischen Zeit sowie die Avantgarde der Weimarer Republik in seinen offiziellen kulturellen Kanon aufgenommen und dabei in vielen Fällen übersehen, dass viele dieser Künstler Verbindungen zur extremen Linken gehabt hatten. Der Abstrakte Expressionismus, ein Malerei-Stil der sich in den 1940er Jahren in New York entwickelt hatte, wurde in Westdeutschland anfangs abgelehnt, sollte jedoch bald zum bevorzugten Stil der dortigen Künstler werden. Dieser scheinbar unpolitische abstrakte Stil befand sich in deutlichem Kontrast zu den figurativen Kompositionen und expliziten politischen Visionen des Sozialistischen Realismus. Die Förderer des Abstrakten Expressionismus glaubten jedoch, dass dieser eine Botschaft von Freiheit und Autonomie vermittle – eine Botschaft, die, wenn auch subtiler, keineswegs weniger politisch war.



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