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1. Die Lage im Jahre 1945
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Überblick   |   1. Die Lage im Jahre 1945   |   2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten   |   3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft   |   4. Kultur   |   Empfehlungen zur weiterführenden deutschen Literatur   |   Empfehlungen zur weiterführenden englischen Literatur

Nach seiner totalen militärischen Niederlage kapitulierte Deutschland am 7. Mai 1945 bedingungslos. In Europa war der Zweite Weltkrieg endlich vorbei, auch wenn er in Asien noch bis in den August hinein andauerte. Über 60 Millionen Menschen hatten den Tod gefunden und die gesamte Region vom Atlantik bis tief in die Sowjetunion hinein war verwüstet. Die überlebenden Bevölkerungen waren physisch und seelisch erschöpft. In Deutschland selbst – dem Land das für so viele der Morde und Zerstörungen verantwortlich war – waren an die sieben Millionen Menschen umgekommen, von denen fast die Hälfte Zivilisten aller Altersstufen waren. Unter den Toten waren mindestens 170.000 deutsche Juden, die im Holocaust systematisch vernichtet worden waren.

Millionen weiterer Menschen waren vermisst oder verstümmelt. Selbst wer keine bleibenden körperlichen oder seelischen Schäden davongetragen hatte, sah sich von einem unglaublichen Chaos umringt, es sei denn man lebte in einer der abgelegenen Gegenden im Westen und Süden des Landes. In den Städten waren Millionen von Familien durch die systematischen alliierten Luftangriffe ausgebombt worden. An die 3,4 Millionen Wohnungen von insgesamt 17,1 Millionen Menschen waren völlig zerstört. Weitere dreißig Prozent des Wohnraums waren schwer beschädigt.

Das menschliche Elend wurde zusätzlich durch die Millionen Menschen verschlimmert, die im Lande herumirrten. 1945 versuchten Mütter, die mit ihren Kindern in ländliche Gegenden evakuiert worden waren, zu ihren Heimatorten zurückzukehren. Sie mischten sich auf verstopften Straßen und in überfüllten Zügen mit deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten, die vor der Roten Armee geflohen oder zwangsverwiesen worden waren. Bis Ende der 1940er Jahre stieg ihre Zahl auf elf Millionen. Auf den Straßen oder in Lagern befanden sich auch an die sechs Millionen DPs (Displaced Persons). Die meisten von ihnen waren ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge oder Zwangsarbeiter, die in den Rüstungsbetrieben und in der Landwirtschaft ausgebeutet worden waren. Schließlich müssen zu diesen Unmengen von verzweifelten Menschen noch Millionen von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen hinzugezählt werden, die sich nun auf der Suche nach ihren Familien befanden.

So sehen die Statistiken aus. Es ist sehr viel schwieriger, in wenigen Worten oder selbst in einem längeren Kapitel das ganze Ausmaß der Katastrophe zu beschreiben, die der Zweite Weltkrieg für Europa und für Deutschland bedeutete, auch nachdem Kampf und Massenmord endlich gestoppt worden waren. Während historische Fotos, wie sie in diesem Band enthalten sind, eine ungefähre Vorstellung davon vermitteln, was es bedeutete, diese Katastrophe überlebt zu haben – ausgemergelt, hungernd, krank, verwirrt und hoffnungslos, wie Millionen von Frauen, Männern und Kindern es waren – bleibt ein wahres Verständnis der Situation denjenigen vorbehalten, die sie tatsächlich erlebt haben. Dennoch kann gründliche historische Recherche hier wertvolle Erkenntnisse bringen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig anzumerken, dass die Art, in der verschiedene Aspekte des Übergangs vom Nationalsozialismus zur Nachkriegsordnung in der öffentlichen Debatte dargestellt wurden, über die folgenden Jahrzehnte hinaus umstritten blieb.

Die bedingungslose Kapitulation bedeutete nicht nur, dass die Hitler-Diktatur vernichtet worden war, sondern auch, dass die Souveränität ganz in den Händen der Alliierten lag. Sie waren nun für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, für die Versorgung der Bevölkerung und für die Stabilisierung und den Wiederaufbau des einstigen Feindes verantwortlich. Dementsprechend handeln auch die ersten Dokumente von den Entscheidungen, welche die Alliierten fällten, als die Niederlage des Dritten Reiches so gut wie sicher war. Gewiss hatten die Planungen für die Nachkriegszeit schon 1941/42 auf den unteren Ebenen begonnen, als bald nach dem Kriegseintritt der Amerikaner abzusehen war, dass die Niederlage der Achsenmächte – Deutschland, Japan und Italien – nur eine Frage der Zeit sein würde. Auf Konferenzen in den Jahren 1943 und 1944 wurden dann die Grundlinien der Nachkriegsordnung auf höchster Ebene von US-Präsident Franklin Roosevelt, dem britischen Premier Winston Churchill und dem Sowjetdiktator Josef Stalin diskutiert.



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