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XIII. Wissenschaft
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Die amerikanische und britische Kernforschung wurde anfangs von Befürchtungen angetrieben, das Nazi-Deutschland Kernwaffen entwickeln und einsetzen könnte. Die Befürchtungen waren berechtigt: deutsche Physiker genossen weltweites Ansehen für ihre bahnbrechende experimentelle und theoretische Arbeit zum Prozess der Uranspaltung, bei der Energie freigesetzt wird. Einige berühmte jüdische Wissenschaftler (wie Lise Meitner, die gemeinsam mit Otto Hahn die Kernspaltung entdeckte) mussten jedoch wegen der Verfolgung durch die Nazis das Land verlassen; andere wurden dadurch behindert, dass NS-Funktionäre zur Diskreditierung bestimmter wissenschaftlicher Theorien (z.B. derer Einsteins) anstifteten. Nichtsdestoweniger gab es noch immer genug Spitzenphysiker in Deutschland, um die Entwicklung von Kernwaffen möglich zu machen. Letztlich wurde dieses Ziel jedoch nie erreicht, auch deshalb, weil sowohl das Regime als auch die Wissenschaftler die militärische Bedeutung der Kernforschung anfangs nicht erkannten.

Eine Kontroverse umgibt noch immer die Absichten des Physikers und Nobelpreisträgers Werner Heisenberg (1901-1976), der später behauptete, er und seine Kollegen hätten nicht gewollt, dass Nazi-Deutschland der Bau einer Atombombe gelinge. Zu den gegenteiligen Beweisen gehört die Niederschrift heimlich aufgezeichneter Gespräche zwischen deutschen Kernphysikern, die gegen Ende des Krieges gefangen genommen und in komfortabler Umgebung auf dem englischen Landsitz Farm Hall interniert wurden. Das britische Unternehmen zur Abhörung dieser „Gäste“ wurde „Operation Epsilon“ genannt. Eine englische Übersetzung ihrer Bemerkungen wurde an General Leslie Roves, den amerikanischen Leiter des Manhattan Project, übermittelt.

Zu der Farm Hall-Gruppe gehörten neben Heisenberg auch Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker (der ältere Bruder von Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 1984 bis 1994). Insgesamt legen ihre Bemerkungen und die der anderen Wissenschaftler der Gruppe den Schluss nahe, dass sie einfach nicht die richtigen Methoden gefunden hatten, um eine Kettenreaktion auszulösen oder auf den Ressourcen zu bestehen, die sie gebraucht hätten, um während des Krieges mehr zu erreichen (39). Die Farm Hall-Gespräche beinhalten ebenfalls die erstaunten Reaktionen der Gesprächspartner auf die Nachricht, dass Amerika eine Atombombe auf Hiroshima abgeworfen hatte.

Das NS-Regime brachte etliche Perversionen der Wissenschaft hervor und verstieg sich in manche komplette Quacksalberei, doch es gelang ihm auch, die seriöse Wissenschaft für seine Zwecke zu mobilisieren, ebenso wie es den Staatsapparat für die Partei und die SS einspannte. Seine Kernforschung schlug zwar fehl, doch andere Wissenschaftler und Ingenieure entwickelten technisch komplexe Waffen wie die V-2-Rakete, die 1944 Verluste und Schrecken über London brachte und anschließend als direkter Vorläufer sowohl der Interkontinental- als auch Weltraumraketen diente (40). Trotz seiner archaischen und ineffizienten Elemente war Nazi-Deutschland kurz davor, die Vorherrschaft über Europa zu erlangen. Dieses Vermächtnis des 20. Jahrhunderts wirkt im 21. noch immer verstörend.

Richard Breitman
Übersetzung: Insa Kummer



(39) Zu diesem Schluss kommt Mark Walker, German National Socialism and the Quest for Nuclear Power. Cambridge: Cambridge University Press, 1989 (dt.: Mark Walker, Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, übersetzt von Wilfried Sczepan. Berlin: Siedler, 1990).
(40) Michael J. Neufeld, The Rocket and the Reich: Peenemünde and the Coming of the Ballistic Missile Era. New York: Free Press, 1994 (dt.: Michael J. Neufeld, Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, übersetzt von Jens Wagner. Berlin: Brandenburgisches Verlags-Haus, 1997).

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